Die Landtagswahlen am 13.März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt ergaben für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Resultate von 5,2% bis 30,3%. Mit der Diskussion über diese Ergebnisse beim kleinen Parteitag in Berlin am vergangenen Samstag ist nun die unmittelbare Nach-Wahl-Phase abgeschlossen.
Der große Wahlsieger Winfried Kretschmann, den sein Erfolg in demoskopische Höhen getragen hat, die früher allenfalls Joschka Fischer erreichte, wurde noch einmal gebührend gefeiert. Alle verneigten sich vor seiner historischen Leistung. Die einen etwas freudiger und tiefer als die anderen, aber das Mäkeln am Erfolg, das wir Grüne manchmal so gut beherrschen, blieb diesmal aus. Den Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern in Sachsen-Anhalt wurde für beherzten Einsatz unter schwierigen Bedingungen Respekt gezollt; es ist schließlich für die ganze Grüne Partei nicht irrelevant, dass wir sagen können: Wir sind weiterhin in allen 16 Landtagen vertreten. Über Rheinland-Pfalz und die dort erlittene drastische Wahlniederlage wurde überwiegend höflich geschwiegen.
Doch jetzt kommen die Mühen der Ebene. Für Baden-Württemberg heißt das, die Grün-Schwarzen Koalitionsgespräche so erfolgreich zu führen, dass nicht nur eine Regierung zustande kommt – das ist schon gewiss – sondern auch in dieser neuen Konstellation der Grüne Beitrag zum fortgesetzten, notwendigen Wandel ebenso deutlich wird, wie die Grüne Fähigkeit, den Menschen in diesem Wandel Beheimatung zu bieten.
In Sachsen-Anhalt, wo man den Umstand, dass in diesem Bundesland nun auch eine Regierungsbeteiligung dazu kommt, nicht ganz ohne Ambivalenz würdigen kann, bieten diese Verhandlungen die Chance aus der gefährlichen Nähe zur 5%-Hürde herauszuwachsen.
In Rheinland-Pfalz geht es eher um einen politischen Neuaufbau. Jetzt die gemachten Fehler hinter der nahe liegenden Ausrede mangelnder Wahlkampfkommunikation großer Regierungserfolge zu verstecken, würde die Chance dazu von vorneherein in Frage stellen. Doch die größte Herausforderung ergibt sich für die Bundespartei. Ihre Lage ist widersprüchlich; sie umfasst sowohl die Chance zu einem Aufbruch als auch das Risiko, sich bei dessen Gestaltung zu zerstreiten und dadurch zu lähmen. In den Nuancen der Redebeiträge beim kleinen Parteitag, dem Länderrat, wurde deutlich, dass, wie zu erwarten war, keineswegs völlige Übereinstimmung herrscht darüber, was es heißt, Kretschmann nicht zu kopieren, aber zu kapieren.
Banal ist es zu sagen, dass Baden-Württemberg-Erfahrungen – Erfahrungen einer von einem Ministerpräsidenten geführten Landespartei mit seit langem wirksamen wertkonservativen Politikanteilen – nicht eins zu eins, etwa auf den Berliner Landesverband übertragen werden können. Einen Landesverband, der von einer Viererspitze in den Wahlkampf geführt wird, Schwarz-Grün ganz überwiegend abhold ist und von Spöttern vor der Alternative gesehen wird, demnächst Rot-Rot-Grün oder Rot-Rot-Rot zu regieren. Wohlgemerkt: ein Kretschmann-Kurs würde in Berlin ganz gewiss keine 30 Prozent Wahlergebnis einfahren. Sehr wahrscheinlich noch nicht einmal die Hälfte. Genauso, wie Ströbele, der in seinem Wahlkreis mit klar über 40 Prozent verlässlich das Direktmandat holt, in Baden-Württemberg wohl kaum irgendwo auf ein nur annähernd vergleichbares Ergebnis käme. Die Grüne Bundespartei muss diesen unterschiedlichen und vielen weiteren Landesrealitäten gerecht werden ohne dabei beliebig zu werden. Die Tatsache, dass wir demnächst in den Bundesländern fünfmal Rot-Grün, einmal Grün-Schwarz, einmal Schwarz-Grün, einmal mit einer Ampel, einmal à la Kenia und einmal Rot-Rot-Grün regieren, unterstreicht die Schwierigkeit dieser Herausforderung.
Es sind drei Begriffe, mit denen sich meines Erachtens beschreiben lässt, wie wir uns als Grüne entwickeln müssen, um in dieser Situation erfolgreich zu sein und bei der Bundestagswahl 2017 mit einem klaren Gestaltungsauftrag in Regierungsverantwortung gehen zu können. Es sind die Begriffe Orientierungspartei, Bewegungspartei, Dialogpartei.
Zur Orientierungspartei müssen wir werden, weil wir angesichts der unübersehbar wachsenden Orientierungsschwäche der bisherigen Volksparteien CDU/CSU und SPD, den unerlässlichen Streit um die Zukunft unseres Landes und der EU nicht einfach dem Wettbewerb zwischen technokratischer Entpolitisierung und populistischem Extremismus überlassen können. Orientierungspartei sein heißt nicht, für alles die berühmten „Grünen Lösungen“ parat zu haben. Es heißt die Frage nach der Gesamtorientierung, nach einem neuen, zukunftsfähigen Mainstream selbstbewusst zu stellen. Es heißt grundlegende, zentrale Reformprojekte zu identifizieren und verlässlich dafür zu streiten, egal in welcher politischen Konstellation. Es heißt, „Hegemoniefähigkeit“ nicht mit Besserwisserei zu verwechseln, sondern durch die bewusste Schaffung von Anschlussfähigkeit eigener Perspektiven für andere zu suchen. Zur Orientierungspartei gehört es auch – das können wir ganz sicher von Kretschmann lernen – unser Grünes Orientierungsangebot durch dafür glaubwürdige Personen zu repräsentieren.
Bewegungspartei heißt, sich nicht in den und an die institutionellen Prozesse zu verlieren, denen sich eine politische Partei nicht entziehen kann, sondern gesellschaftliche Bewegung wahrzunehmen, zu verstehen, aufzugreifen, sie zu unterstützen und ihr Realisierungsperspektiven zu bieten. Klassisch haben wir von Bewegungspartei zumeist mit Blick auf soziale Bewegungen gesprochen. Um die geht es ganz gewiss auch in Zukunft. Eine Grüne Partei, die in der TTIP-kritischen Bewegung keine Rolle hätte, die nicht durch zahllose Aktive und durch ihre offizielle Politik dazu beitragen würde, den Flüchtlingen, die zu uns kommen, Hilfe und Weltoffenheit entgegen zu bringen, eine Partei, die sich nicht verlässlich an Bewegungen gegen Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit beteiligte, eine solche Partei könnte nicht Kraft der Veränderung sein. Aber Bewegungen, die wir verstehen und aufgreifen müssen, gibt es auch in etablierten Milieus, gibt es zum Beispiel in der Wirtschaft – da hat Kretschmann recht. Es ist nicht so, dass wir wählen müssten, oder wählen dürften, welcher dieser Bewegungen wir unser Ohr schenken und unsere Hand anbieten wollen. Kretsch hatte beim Länderrat recht mit der Aussage, dass unsere Gesellschaft insgesamt sich progressiver entwickelt als das die alten Konservativen bei der Union wie bei der SPD wahrhaben wollen. Wir Grüne können allen diesen positiven Bewegungen Partner sein.
Weil die gesellschaftliche Realität und die Dynamik ihrer Veränderung höchst vielfältig ist, wäre Dogmatismus das schlimmste Gift für die Ambitionen Orientierungspartei und Bewegungspartei zu sein. Deshalb muss die Dialogpartei dazukommen. Kretschmann hat von der Politik des Gehörtwerdens gesprochen und erfolgreich versucht, diese in seinem Bundesland Stück für Stück zu etablieren. Eine Dialogpartei muss wissen, dass der Kompromiss der Normalfall des politischen Fortschrittes in einer Demokratie ist. Sie darf Kompromisse nicht verachten. Eine Dialogpartei muss – gerade wenn sie in Verantwortung steht – die Fähigkeit haben zu erkennen, wo das Glas halb voll ist. Umgekehrt heißt das aber nicht, immer nur deshalb das volle Glas zu sehen oder jeden Kompromiss zu einem Sieg zu erklären. Wenn Kretschmann sagte, er habe in der letzten Zeit kein Unternehmen besucht, bei dem er nicht auch ökologisches Denken gefunden hätte, dann trifft sich das mit meiner Erfahrung; die andere Seite meiner Erfahrung ist allerdings, das ich auch sehr viele Unternehmen besuchte, oder Wirtschaftsvertreter gesprochen habe, bei denen die Bereitschaft zum ökologischen Umdenken und Umsteuern in erheblichem Maße steigerungsfähig war. Würden wir, weil wir den Dialog suchen, Trennendes, Ungenügendes, Kritikwürdiges nicht benennen, dann wäre es kein Dia-log, sondern bestenfalls ein Duo-log, in dem wir darauf verzichteten eigenständig zu sein. Auch Kompromissbereitschaft muss zusammengehen mit der Fähigkeit, hartnäckig, mit revolutionärer Geduld und der Bereitschaft, Umwege zu machen, darauf hinzuwirken, dass es bei dem jetzt möglichen Kompromiss nicht bleiben muss.
Es ist offenkundig, dass wir etliche Klärungen vor uns haben, wenn wir Grüne erfolgreich Orientierungspartei, Bewegungspartei und Dialogpartei seien wollen. Diesen Mühen der Ebenen müssen wir uns stellen, damit wir danach dann neue Höhen erklimmen.
Foto (c) Rasmus Tanck