Wir brauchen ein gemäßigtes Wachstum

schrägstrich: Herr Professor Binswanger, warum ist Wirtschaftswachstum zu so einem absoluten Wert in Politik und  Wirtschaft geworden?

Hans Christoph Binswanger: Das Wachstum hat uns in den letzten 200 Jahren großen Reichtum gebracht und ist  deshalb zu einer Grundlage des Wirtschaftsverständnisses geworden. Außerdem braucht es Wachstum, um die Marktwirtschaft am Leben zu erhalten. Das ist aber nicht notwendigerweise ein maximales Wachstum! In den vergangenen zwei Jahren sind wir trotz Wachstums in eine ökonomische Krise hineingeraten, nicht nur in eine ökologische. Durch den Wachstumsdrang wird die gesamte Wirtschaft – vor allem das Finanzsystem – darauf ausgerichtet, immer neue Spekulationswellen zu finanzieren, vollkommen losgelöst von der Realwirtschaft.

schrägstrich: Teilen die Grünen diese Analyse?

Reinhard Bütikofer: Was Professor Binswanger über Wachstum gesagt hat, kann ich unterschreiben. Aber ich möchte betonen, dass ich es für einen Fehler hielte, wenn wir Grüne die konkrete politische Debatte über grüne Wirtschaftspolitik, über den Green New Deal, durch eine theoretische Wachstumsdebatte ersetzen würden. Das Konzept Green New Deal ist erfolgreich, weil es auf verschiedenen Ebenen ansetzt: Erstens bei der Notwendigkeit, die Finanzmärkte zu regulieren. Zweitens geht es um eine aktive staatliche Politik gegen Ausgrenzung und für soziale Sicherungssysteme. Die industriepolitische Ebene ist die dritte – und sicher ganz zentral.

schrägstrich: Und da geht es doch ums Wachstum. Wie passt das damit zusammen, dass die Grünen eine Enquetekommission im Bundestag einsetzen wollen, um unsere Wachstumsfixierung kritisch zu hinterfragen? Besinnt die Partei sich wieder auf ihre Wurzeln?

Bütikofer: Solange ich bei den Grünen Wirtschaftspolitik mache, waren diese Wurzeln nie verschüttet. Wir haben doch nicht bis gestern das Wachstum angebetet. Ich bin für die Enquete. Aber bitte nicht die Theoriereflexion gegen die Politik ausspielen! Denn wir wollen eine ökologische industrielle Revolution – das funktioniert nicht ganz ohne Wachstumsprozesse. Die Frage, ob eine ökologische Perspektive in der wirtschaftlichen Krise eine Mehrheitschance hat, hängt stark davon ab, ob sie praktische Antworten zu bieten hat. Dafür ist der Green New Deal sehr wichtig!

Binswanger: Dennoch gilt es zunächst, den Wachstumsdrang in Richtung eines notwendigen, minimalen Wachstums zu reduzieren. Der zweite Schritt wäre dann, an die Qualifizierung zu gehen, damit die Ressourcen und die Umwelt geschont werden. Das erfordert zusätzliche Maßnahmen, damit die Effizienz- in eine Suffizienzrevolution
übergeht. Wenn wir nur auf die Effizienz schauen, also beispielsweise darauf, dass ein Auto weniger Benzin verbraucht,
ist noch nicht viel erreicht. Der Green New Deal allein reicht nicht!

Bütikofer: Er setzt an dem Versprechen der Wohlstandsmehrung an, von dem Sie sprachen. In der Realität ist dieses Versprechen vielfach gar nicht mehr erfüllt. Formell wird zwar mehr gesellschaftlicher Reichtum angehäuft. Doch dem entsprechen auf der anderen Seite riesige ökologische und soziale Schuldenberge. Darum brauchen wir eine wirtschaftliche Dynamik, die gesellschaftliche Wohlstandsmehrung mit einer Absage an die Ressourcenverschwendung
kombiniert. Wir können zum Beispiel schon in absehbarer Zeit 100 Prozent erneuerbare Energie für Europa erreichen.

Binswanger: Mit reinen Investitionen in erneuerbare Energien oder der Erhöhung der Ressourceneffizienz kommen wir aber nicht hin. Auch das Wachstum der erneuerbaren Energien belastet die Umwelt. Wenn man zum Beispiel Energiepflanzen wie Raps statt Getreide anbaut oder das Getreide einfach verbrennt, wird die Ernährungsproblematik weltweit verschärft. Oder Windräder beeinträchtigen die Landschaft und können die Artenvielfalt reduzieren.
Erneuerbare Energien beanspruchen sehr viel Raum und Boden. Deshalb geht es bei ihnen auch um eine nachhaltige, doppelte Nutzung: etwa durch Sonnenkollektoren auf Häuserdächern statt auf Feldern.
schrägstrich: Brauchen wir denn überhaupt Wachstum?

Binswanger: Ein minimales Wachstum ist systemnotwendig. Die Unternehmungen müssen produzieren können, und dafür benötigen sie Geld. Dieses Kapital wird auf ein gewisses Risiko hin eingesetzt. Um das zu decken, brauchen die Kapitalgeber eine gerechtfertigte Gewinnerwartung. Und die wird nur durch neue Investitionen, durch Wachstum erzielt.

Bütikofer: Lassen Sie uns etwa auf die Investitionen in Energieeffizienz schauen. Ohne die werden wir die Umstellung auf eine ökologisch verträglichere Produktionsweise nicht hinbekommen. Insofern müssen wir mit dem Widerspruch zurecht kommen, einerseits den Wachstumsdrang zu mindern und andererseits Wachstum für die Transformation der Wirtschaft zu nutzen.

Binswanger: Laut Umweltbundesamt sind aufgrund der Wirtschaftskrise die CO2-Emissionen 2009 um 8,4 Prozent gesunken. Die Minderung des Wachstums spielt also eine Rolle für den CO2- Ausstoß. Andererseits kann das natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss sein, weil wir ja auch keine Schrumpfung wollen.

Bütikofer: Ich möchte noch einen anderen Aspekt einbringen: Die Wachstumsdiskussion ist seit vielen Jahren eine Diskussion unter ökologisch aufgeklärten Intellektuellen. Nun werden aber politische Begriffe nicht über das philosophische Wörterbuch definiert, sondern über reale Erfahrungen. Und die Erfahrung, die viele abhängig Beschäftigte gerade machen, ist: Wenn das Wachstum ausbleibt, geht es für uns abwärts.

schrägstrich: Das heißt, Politikerinnen und Politiker können überhaupt nicht für Schrumpfung eintreten?

Bütikofer: Wenn wir Mehrheiten gewinnen wollen für den Green New Deal, dürfen wir nicht nur mit unserem Milieu diskutieren! Das war ja damals unser Hauptproblem, als wir Grüne einen Benzinpreis von 5 Mark forderten. Das wurde als soziale Bedrohung wahrgenommen. Mit der Botschaft »Hurra, wir sind gegen Wachstum« wird eine ökologische Reformpolitik nicht mehrheitsfähig.

schrägstrich: Wie kann man den Menschen denn vermitteln, dass weniger Wachstum ein Plus an Lebensqualität bedeuten kann?

Bütikofer: Ich würde sagen: Wenn wir uns darauf einlassen, auf Energie- und Rohstoffeffizienz sowie auf erneuerbare Energien zu setzen, dann schafft das mehr ökonomischen Fortschritt, mehr Arbeitsplätze und mehr soziale Stabilität als eine Wachstumspolitik, die mit rein quantitativen Kriterien arbeitet.

Binswanger: Ich möchte das ergänzen durch die Problematik, dass die Auswucherung des spekulativen Wachstums zu Krisen führt – übrigens auch zu extremen Einkommensunterschieden. Diese Krisen sind für alle Menschen spürbar, wenn daraus Arbeitslosigkeit resultiert und die Staaten sich immer weiter verschulden. Das hat sich in Griechenland ja gerade schon ausgewirkt. Und diese Krisenanfälligkeit wird wahrscheinlich zunehmen.

Bütikofer: In einer Martkwirtschaft ist es gar nicht möglich, Krisen vollständig auszuschließen. Wir können aber verhindern, dass Krisen eine alles verschlingende Gewalt entfalten. Das ist insbesondere dann möglich, wenn wir Finanzinstitutionen nicht über die Größe wachsen lassen, die es noch erlaubt, sie zu kontrollieren, kurz: wenn wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für marktwirtschaftliche Innovationen neu setzen. Der Markt ist ja kein Naturereignis, sondern ein Kulturprodukt!

Binswanger: Er ist eine staatliche Veranstaltung. Der Staat muss das Eigentum und die Unternehmensformen regeln und das Geld regulieren. Banknoten sind gesetzliche Zahlungsmittel. Die Politik ist die institutionelle Grundlage für den Markt.

Bütikofer: Ja, und das Spannende ist doch, Regeln zu finden, die einerseits die Kreativität der Märkte für die ökologische Transformation weiter nutzen und andererseits genau diese Umorientierung forcieren. Das kann etwa dadurch geschehen, dass CO2 einen Preis bekommt: Sei es durch eine Ökosteuer, ein Emissionszertifikat oder eine Bauvorschrift. Auch die Finanztransaktionssteuer ist ein Instrument, mit dem wir den überbordenden Drang, alle Grenzen der ökonomischen Rationalität zu sprengen, einhegen können.

Binswanger: Das Problem ist ja, dass sich die Geldschöpfung völlig losgelöst hat von Restriktionen, die es früher noch dadurch gab, dass man das Bankgeld in Gold einlösen konnte. Wir müssen wieder eine systematische Begrenzung − aber nicht Verhinderung! − der heute ausufernden Geldschöpfung einführen. Das könnte durch die Einführung des »Vollgeld«-Plans geschehen, indem den Zentralbanken das alleinige Recht zur Geldschöpfung zuerkanntwird.  Dabei könnten auf internationaler Ebene den ärmeren Ländern gewisse zusätzliche Geldschöpfungsmöglichkeiten gegeben
werden.

Bütikofer: Den Gesichtspunkt internationaler Gerechtigkeit müssen wir in der Tat beachten. Wir können etwa auf der Basis einer fairen weltweiten Teilung des Umwelt- und Klimaraumes diejenigen, die mehr CO2 pro Kopf ausstoßen als nachhaltig sein kann, verpflichten, Emissionszertifikate beim Rest der Welt aufzukaufen. So ein Transfersystem würde zu einem Dreiklang führen, der die klimapolitischen Imperative mit technologischer Entwicklungskooperation und globaler Gerechtigkeit verbindet.

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