Gustav Schwabs Ballade „Der Reiter und der Bodensee“ ist Grundlage geworden für die Redeweise vom „Ritt über den Bodensee“. Der Reiter begibt sich, indem er über den zugefrorenen Bodensee reitet, in tödliche Gefahr, erkennt sie nicht, entgeht ihr, wird ihrer nachträglich gewahr – und stirbt daran. So geht es Angela Merkel und ihrer neuen schwarz-gelben Koalition nicht. Sie wissen um die großen Risiken, denen sie gegenüber stehen, ihr Blick erfasst schon im Vorhinein „den gräßlichen Schlund“. Wie gehen sie damit um? Klar ist: über den Bodensee müssen sie, sei das Eis auch dünn.
Frau Merkel hat bei der Präsentation des Koalitionsvertrags mehrfach von „Mut“ gesprochen. Doch welcher Mut wozu? Vor vier Jahren, vor dem Ende der neoliberalen Phase in Angela Merkels Schaffensperiode, hätte die Formel heißen können Mut=Merz=Merkel, auch wenn sich die beiden genannten Personen nicht ausstehen konnten. Damals galt das Versprechen des „Durchregierens“. Jenes Durchregieren hätte dem Durchgaloppieren in der Ballade entsprochen. Wäre sie dazu gekommen, wäre sie heute politisch wahrscheinlich mausetot. Gerettet durch die Weitsicht des Wahlvolkes und gepäppelt durch Münteferings SPD, die lieber die Kanzlerin in die Mitte einlud, als diese selber zu besetzen, kehrt Merkel zu „Leipzig“, dem Symbol für den großen, marktfetischistischen Götzendienst, sicher nicht zurück. Durchregieren ist ein Wort von gestern. Mit „Mut“ meint die Kanzlerin jetzt die Bereitschaft zum größten deficit spending Experiment, das es in Deutschland je gab. Fast könnte man sagen, sie fällt in das andere Extrem. Immerhin sagt die Kanzlerin nicht, dass das gut gehen werde. Es gebe die Chance, dass wir alle über den Bodensee kommen, sagt sie. Sicher könnten wir nicht sein; anders gehe es gewiss nicht; wenigstens hätten wir so eine fighting chance.
Das ist einerseits ziemlich ehrlich – und andererseits frivol. Denn, wenn die Sache angesichts von Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Klimakrise, die alle soziale Gerechtigkeit untergraben, von Zunahme des Hungers in der Welt über viele regionale Konflikte bis zu der beginnenden nationalistischen Desintegration Europas so ernst steht, wie es ja nun einmal ist, dann kann man nicht einen solchen Koalitionsvertrag abschließen. Einen Koalitionsvertrag, der das hässliche, kleinkarierte business-as-usual des Klientelismus pflegt; der in seiner Unentschlossenheit, Vagheit, Orientierungslosigkeit frühere weit übertrifft; der sorgfältig darauf achtet, große Versprechungen im Ziel nicht durch geeignete Mittel auf der Instrumenten-Ebene zu unterfüttern. Der Koalitions-Vertrag ist ein Drei-Komponenten-Pudding: Ein Drittel Merkelscher Abwartetaktik, die sich in einem runden Dutzend Kommissionen und zahllosen Prüfaufträgen ausdrückt. Ein Drittel „bürgerlicher“ Klientelbedienung, die vor allem dem Motto huldigt: „Reichtum muss sich wieder lohnen“. Ein Drittel ungedeckte Schecks, wozu auch einige wohlklingende Klimaziele gehören, die mit der in Aussicht genommenen Politik garantiert nicht erreicht werden können.
Gefangene ihrer Wunschkoalition
Frau Merkel hat genau diese Koalition des Drei-Komponenten-Puddings mit kluger, langfristiger Strategie vorbereitet. Jetzt, da sie triumphiert, muss sie aber auch feststellen, dass sie ab sofort Gefangene ihrer Wunsch-Koalition sein wird. Sie wird wohl ab und zu in ihrer eigenen Koalition in der Minderheit sein. Sie ist, anders als bei der vergangenen Großen Koalition, nicht die ideologische Mitte. Zwar hat sie die Richtlinienkompetenz, jedoch kann die in jeder Koalition nur mit Umsicht eingesetzt werden. Hinter dem Partner SPD, der dies oder jenes einfach nicht will, kann sie sich nicht mehr verstecken. In etlichen für Konservative und Marktliberale symbolträchtigen Fragen ist die Kanzlerin eher unemotional. Sie fremdelt nach wie vor mit für sie wichtigen Milieus. Sehr unbequem das alles.
Was wird daraus für eine Regierungsarbeit entstehen? Es wird ein schlimmer Flickenteppich sein, mehrfach gefaltet und verworfen. Eine Philosophie, einen überwölbenden Gedanken, gibt es nicht.
Dass die FDP ein Regierungsmotor sein wird, bezweifle ich. Westerwelle wird sich ab sofort anstrengen, als Außenminister so populär zu werden wie Genscher und Joschka waren, und daran scheitern. Niebel ist ein schlechter Witz. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat in den grundlegenden Bürgerrechtsfragen klein beigegeben. Brüderle wird in Zukunft dafür sorgen, dass ihn seine marktwirtschaftlichen Ideen nie beim Regieren stören. Rösler – immerhin der erste deutsche Minister mit Migrationshintergrund! Hurrah! – wird es, unerfahren, wie er ist – kein Vorwurf! – schwer haben, im Piranha-Teich der Gesundheitspolitik zu bestehen. Wenn trotzdem der FDP-Druck zu heftig wird, wird Frau Merkel ihren Finanz-Zar Schäuble in Stellung bringen wollen oder der sich selbst einwechseln, wie damals Günter Netzer. Schließlich bleibt noch der tiefe Raum des Bundesrates. (Man ist schön blöd, Herr Westerwelle, wenn man eine Steuersenkung zu Lasten vor allem der Länder verabredet, und meint, die merkten das nicht und würden sich wegen „bürgerlicher“ Schmacht-Lyrik nicht um eigene Interessen schlagen.)
Ich glaube, dass vor allem drei Große Fragen das Schicksal dieser neuen Regierung prägen werden: der Umgang mit der Krise, im Innern und international, im Wirtschaftlichen und Fiskalischen wie im Sozialen; der Umgang mit der Frage der notwendigen energiepolitischen Revolution pro Effizienz und Erneuerbare samt der Atompolitik und Klimapolitik, die da dran hängen; der Umgang mit dem Zerfasern des Europäischen Projekts und dem Hochschwimmen der ganzen alten Elemente von Nationalismus und Ausgrenzung.
Europa ist Merkel egal
Um mit dem letzten anzufangen, da sind die Signale erschreckend. Die Benennung von Oettinger als EU-Kommissar – natürlich ohne die vertraglich vorgesehene Einbeziehung des Kommissionspräsidenten – ist in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten richtig verstanden worden, als Ausdruck von Interesselosigkeit gegenüber und geringer Wertschätzung für europäische Politik. Der Text des Koalitionsvertrags belehrt einen leider keines Besseren. Keine Ideen und keine Ziele kennt der Koalitionsvertrag zur Frage, ob Europa nicht vielleicht doch bei Wirtschaft oder Migration mehr gemeinsam handeln müsste. Kein Thema. Zur EU-Erweiterung auf dem West-Balkan verweigert der Koalitionsvertrag die Aussage. Die Frage, wie Europapolitik näher an die Bürgerinnen und Bürger herangebracht wird, stellt sich die Koalition nicht. Die europapolitische Ambitionslosigkeit grenzt an europäischen Vaterlandsverrat. Denn wer Europas Zusammenhalt nicht stärkt, bereitet den Weg für sein Auseinanderfallen.
Steuern versus Schulden
Bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat sich die öffentliche Diskussion bisher vor allem auf Merkels riskante Wette mit der fiskalischen Realität konzentriert. Zwei Lager treten gegeneinander an wie damals beim Jahrhundertkampf zwischen Guelfen und Ghibellinen. Heute heißt es „Hie Steuern runter!“ und „Hie Schulden stoppen!“. Doch tatsächlich ist die Lager komplexer. Bei Anne Will kam das am Koalitionsvertrags-Sonntag zwischen Jürgen Trittin und Wolfgang Schäuble zum Vorschein. Das ging so. Erst Angriff Trittin: Für Steuersenkung ist kein Geld da. Auf Pump darf man das nicht. Parade-Riposte Schäuble, der dabei den Kopf so vor streckte, dass er mich an die alte Schlange Kaa erinnerte: Wollen Sie, dass wir uns kaputt sparen wie Brüning? Parade Trittin: Nein, behüte. Aber man muss das Geld denen geben, bei denen es sich in reale Nachfrage verwandelt. Danach lächeln beide wissend. Dieser kleine Dialog ist wichtig, denn er zeigt die Verschlingungen. Trittin verwendet zwei Kritiken an der Steuerpolitik der Koalition, sozusagen eine „rechte“ und eine „linke“, während Schäuble nicht die „rechten“ Steuersenkungen verteidigt, die man für die sogenannte bürgerliche Klientel machen will, sondern die „linke“ Entschlossenheit, mit deficit spending der Konjunktur auf die Beine zu helfen. Obama hat auf Pump Steuern gesenkt. Schwarz-Rot hat dieses Jahr für 2010 schon eine Steuersenkung von 14 Mrd. Euro beschlossen. Die SPD hatte weitere Steuersenkungen in Aussicht gestellt. Grün wollte zwar nicht Steuern senken, sondern Abgaben, aber auch auf Pump. Und die Bürgerinnen und Bürger finden Steuersenkung auf Pump zwar nicht gut, halten aber zu Union und FDP. Ich finde, man sollte nicht auf die Leimspur des FAZ-Wirtschaftsteils gehen. In einer Debatte zwischen den konkreten Steuersenkungs-Versprechen der Koalition und der Konsolidierungs-Orthodoxie hat progressive Politik wenig zu gewinnen. Progressive Politik muss sich darauf konzentrieren selber darzulegen, wie der Ausweg aus der Krise klappen soll. Ein klar finanziertes öffentliches Investitionsprogramm für Bildung ist sicher ein Teil davon. Ein zweiter, attraktiver, wäre der Green New Deal, mit dem wir Grüne im EP-Wahlkampf wie in der Bundestagswahl gut ankamen und der sich in Spuren auch in Steinmeiers Deutschlandplan fand. Da ist die Regierung schwach, ideologisch wie praktisch. Das Soziale übrigens sollte man nicht abgetrennt, als Fachpolitik, verfolgen, sondern als integralen Bestandteil eines Green New Deal als Ausweg aus der Krise.
Gegenmobilisierung ist eine Chance
Schließlich die Energie-, Klima- und Atompolitik. Das ist schon nicht, da macht sich die Polemik manchmal etwas selbstständig, eine Politik „Zurück in die Achtziger Jahre“, noch nicht mal bei der Atompolitik, so dämlich die auch ist. In den achtziger Jahren warben Konservative noch stolz und ohne grüne Girlanden für rücksichtsloses Wirtschaftswachstum. So reden heute selbst in dieser Koalition nicht mehr viele. Aber rückwärts gewandt, strukturkonservativ, nicht konsequent wertkonservativ!, ist die Politik in dem ganzen Bereich offenkundig. Konzeptionell ist´s ein Wirrwarr. Lächerlich ist das Versprechen, die „grünen“ Erwartungen der Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen, sie teilweise sogar zu befriedigen, und gleichzeitig die Lobbies nach deren Willen zu bedienen. Wir wissen: das geht nicht. Ja, die Atomkonzerne sollen nach dem Willen der Koalition gemästet werden. Auch anderen industriellen Lobbies will man zu Gefallen sein, von Auto bis Gentechnik. Erbärmlich die Pläne zur Einschränkung des Naturschutzes. Aber es gibt im Koalitionsvertrag auch andere Signale. Damit meine ich nicht die grünen Lippenbekenntnisse, auch wenn die sich vielleicht nutzen lassen beim Zusammenbauen einer gesellschaftlichen Opposition gegen die Koalition. Ich habe vielmehr die Tatsache im Auge, dass an nicht wenigen Stellen der Text des Koalitionsvertrages so auslegungsweit und auslegungsbedürftig ist, dass man sehr unterschiedliche Politik darauf aufbauen kann, je nach politischem Willen. Selbst beim Versprechen, den Atomausstieg zu revidieren, bleibt einstweilen unklar, wie weit das gehen soll. Ich lese diese Vagheiten nicht als technische Unfähigkeit, sondern als politische Unsicherheit. Oettinger und Koch z.B. wären schnell fertig gewesen mit einem Text, in dem schlicht die Aufhebung jeder Laufzeitbegrenzung für AKWs fest gezurrt worden wäre. Sie haben öffentlich auch nicht wenig dafür geworben. Es kam nicht so. Ich meine: mangels Traute zur unverstellten Maximalkonfrontation. Verstehe ich diese Anzeichen richtig, dann heißt das nicht, dass es nicht in jeder einzelnen Frage ganz böse kommen kann. Aber es heißt, dass massive Gegenwehr, massiver Gegendruck, massive Gegenmobilisierung mehr als nur eine Außenseiterchance haben
Die Oppositionskritik am Koalitionsvertrag ist bisher zumeist ziemlich schematisch gewesen, egal von welcher Partei. Bis zu einem gewissen Grad muss das ja sein. Entscheidend für eine erfolgreiche Oppositionsstrategie wird meiner Auffassung nach allerdings sein, ob die Opposition in der Lage ist, der Koalition eigene Projekte entgegen zu setzen, und ob diese populär gemacht werden können. Die Verbände und Organisationen, deren Rückhalt für die Entwicklung von Alternativen wichtig ist, haben jedenfalls in auffälliger Weise nicht bei der Melodie „Verurteilt die Neoliberalen, wo Ihr sie trefft“ mitgesungen. Die Erneuerbaren Energien haben, wenn ich mich nicht täusche, den Koalitionsvertrag begrüßt, ich nehme an mit Bezug auf ihre Branche. Und auch die Gewerkschaften blieben recht zahm. Michael Sommer nuschelte irgendwas, aber da war die Kritik an Rot-Grün vor 2005 oder selbst die an der SPD in der Großen Koalition wirklich stärker.
Ich bin überzeugt, dass der Erfolg der Opposition, in allen ihren drei Parteien, auch daran hängen wird, welche von ihnen das neue Narrativ entwickelt, das den Schwarz-Gelben nicht gelungen ist. Oder vielleicht entwickelt sich da ja sogar etwas, das so hegemoniefähig wird, dass es Menschen aus verschiedenen Richtungen anzieht – einschließlich solcher, die diesmal durch Wahlenthaltung oder Stimmabgabe für Schwarz-Gelb das nötige Übergewicht für Frau Merkel in der Mitte ermöglicht haben.
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