Unmittelbar nachdem EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in einer großen China-Rede (30.03.2023) den Begriff De-Risking aus der Taufe gehoben hatte, um einen neuen Grundton in der Beschreibung von Europas Chinabeziehungen anzuschlagen, konnte sich das politische Peking zunächst nicht ganz einigen, ob man von der Leyens klare Absage an das „Decoupling“-Narrativ und ihren neuen Topos begrüße oder ablehnen solle. Der chinesische Botschafter zur EU, Fu Cong, reagierte in einem Interview verhalten positiv; De-Risking sei schon klar besser als Decoupling. Ein Kommentar in der Volkszeitung in Peking dagegen ging auf Anti-Kurs. Einerseits sei De-Risking einfach nur ein neues Wort für Decoupling und andererseits sei es eine ganz freche Verleumdung, im Zusammenhang mit China überhaupt von Risiken zu reden. Ich vermutete gleich, dass sich die wohl konfrontative Interpretation durchsetzen würde und nicht die des speziell für europäische Harmonie-Bedürfnisse ausgesuchten Schönsprech-Diplomaten Fu Cong. So ist es inzwischen gekommen.
Wer gehofft haben mochte, durch die Wahl eines verbindlicheren Narratives zum Abbau von Spannungen beizutragen, sieht sich getäuscht. Dabei ist selbstverständlich De-Risking keineswegs nur ein anderes Wort für Decoupling. De-Risking bedeutet grundsätzlich an der Beziehung mit China festzuhalten, bestehende Risiken und Überabhängigkeiten jedoch zu identifizieren und abzubauen. Decoupling dagegen propagiert die Trennung, das Abschneiden des Fadens, die grundsätzliche Negativität. Und doch ist Chinas harsche Reaktion nicht völlig unverständlich. Schließlich war Decoupling tatsächlich immer viel mehr eine großsprecherische Propaganda, als ein reales Handlungskonzept. Die amerikanische Wirtschaft, vertreten durch die U.S. Chamber und die AmCham, hatte sich nie für Decoupling ausgesprochen, weil ihnen das Illusionäre an dieser Erzählung natürlich bewusst war. Um es etwas schnippisch zu formulieren: Decoupling war tatsächlich eine Art De-Risking in feindselige Sprache verpackt. De-Risking andererseits kann gar nicht funktionieren, wenn wir erkannte Risiken nicht tatsächlich abzustellen versuchen. Etwa indem wir Huawei die Beteiligung an europäischen 5G-Netzen verweigern. De-Risking wäre dann aus chinesischer Sicht eine Art selektives Decoupling, in weniger konfrontative Sprache gekleidet.
Für Peking hat der Wechsel von dem einen zum anderen Begriff letztlich vor allem einen Nachteil: Wir Europäer und andere G7-Länder, die die De-Risking-Sprache inzwischen teilen, treten weniger herrisch und aggressiv auf und machen es der chinesischen Propaganda schwerer, uns zu unterstellen, wir wollten die Welt in feindselige Blöcke zerteilen. Abstrakt wäre auch vorstellbar, dass sich in der De-Risking-Debatte jene Stimmen durchsetzen würden – von der BASF, von Volkswagen, von Siemens, von der SPD –, die bisher dem De-Risking einen Lippendienst erweisen, aber in der Praxis am liebsten business as usual betreiben würden. Aber eine solche Wendung der europäischen Diskussion hält Peking anscheinend nicht für wahrscheinlich, und das ist auch ganz realistisch.
Ausgehend von dem Ziel, das De-Risking Narrativ zu bekämpfen, gibt sich die KP Chinas aber nicht nur mit der Beteuerung ihrer grundsätzlichen, absoluten und unwiderruflichen Risiko-Unverdächtigkeit zufrieden. Sie lebt sowieso nach dem Grundsatz, Angriff sei die beste Verteidigung. Also greift sie an. Es ist interessant zu beobachten, dass dieser Angriff gleichzeitig auf zwei Ebenen verläuft. Zum einen sollen die Mitgliedsstaaten gegen Brüssel ausgespielt werden. Zum zweiten sollen einflussreiche Wirtschaftsinteressen und demokratische Politik gegeneinander in Stellung gebracht werden. Das geht ungefähr so: Fu Cong, ich hatte ihn oben einen Schönsprech-Diplomaten genannt, zeigte, dass er auch anders kann, indem er eine populistische Anti-EU-Melodie blies. Für Sicherheitsfragen, so, kurz gefasst, sein Argument, seien in der EU ja doch die Mitgliedsstaaten zuständig und nicht die „ungewählten Bürokraten” in Brüssel. Die Mitgliedsstaaten müssten sinngemäß Brüssel den De-Risking-Quatsch wegen schlichter Unzuständigkeit untersagen. Da wiederum setzte der chinesische Ministerpräsident Li Qiang noch einen drauf, als er zu Regierungskonsultationen jüngst in Berlin weilte. Li Qiang erklärte, die Entscheidung darüber, ob De-Risking praktiziert werden solle und, wenn ja, wie, wieviel und wann, müsse die Regierung den Unternehmen überlassen. Es sei ganz und gar unakzeptabel, dass De-Risking sozusagen „politisiert“ würde.
Das haut ja nun wirklich dem Fass den Boden ins Gesicht! Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten vom Feinsten! Peking möchte entscheiden, wer in Europa wofür zuständig ist. Und womit die deutsche Politik sich zu beschäftigen hat, das wollen sie uns auch noch beibiegen.
Ich denke, es ist an der Zeit für eine argumentative Gegenoffensive. Mir hat das schon in der Decoupling-Debatte nicht gefallen, dass wir über einen Begriff streiten sollten, den Peking von seiner Seite aus längst breitflächig in die Praxis umsetzte. Chinesisches Decoupling war es schließlich, dass große westliche IT-Konzerne im dortigen Markt systematisch ausgeklammert wurden. Dass unsere Unternehmen von Ausschreibungen fern gehalten wurden, während Chinas Staatskonzerne in Europa fröhlich öffentliche Aufträge aufgabelten. Dass Chinas Bahnindustrie, die sich durch legalen und illegalen Technologietransfer von Siemens, von Bombardier und Alstom hatte mästen lassen, den eigenen Markt für die europäische Konkurrenz versiegelte, als man sich stark genug dazu fühlte. Dass Ericsson und Nokia, die vor 20 Jahren in China große Marktanteile hatten, dort inzwischen auf eine Randexistenz zurückgedrängt wurden. Dass westliche Medien und Medieninhalte in China keinen Platz mehr finden. Dass Unternehmen im Bekleidungssektor bestraft werden, wenn sie sich dazu bekennen, keine Baumwolle aus Xingjiang zu beziehen, wo diese mit uigurischer Zwangsarbeit gewonnen wird. Und das alles wird überboten durch eine Reihe von Gesetzen in China, mit denen der Sicherheits- und Kontrollfimmel der Führung um Xi Jinping ins Absurde getrieben wird. De-Risking hoch zehn, mit chinesischen Charakteristika natürlich, ist es, wenn Unternehmen in China dafür bestraft werden können, dass sie sich in den USA an dort gesetzlich vorgeschriebene Xinjiang-Sanktionen halten. Wenn die KP sich den Zugang zu allen in China generierten Daten verschafft und zugleich darüber bestimmen will, welche dort gesammelten Daten ausländischer Firmen, etwa beim autonomous driving, China verlassen dürfen. Wenn das neu überarbeitete Spionagegesetz so formuliert ist, dass es jeden ausländischen Manager ins Gefängnis bringen kann, der sich um corporate due diligence bemüht.
Wenn man aufmerksam hinschaut, kann man nicht bezweifeln, dass China sich seit Jahren in einem fast paranoiden Decoupling- und De-Risking-Overdrive befindet. Das ist alles sogar in öffentlich zugänglichen Strategien und Reden nachvollziehbar. Ich denke an die Strategie “Made in China 2025” von 2016, an die Theorie der „doppelten Zirkulation“ oder an Parteireden Xi Jinpings, in denen er darlegte, dass China sich von der internationalen Gemeinschaft unabhängiger, aber andere Länder mehr von China abhängig machen müsse. Wahrscheinlich haben sich die Redenschreiber von Li Qiang ins Fäustchen gelacht, als sie ihm für das liebe deutsche Publikum die Warnung vor der „Politisierung“ des De-Risking aufnotierten, während es in China selbst absolut gar nichts gibt, das die kommunistische Partei nicht im Interesse ihrer eigenen Machterhaltung vollständig politisiert.
Ich finde in dieser Debatte nichts, für das wir Europäer uns entschuldigen oder um Nachsicht bitten müssten. De-Risking ist eine richtige Überschrift. Aber jetzt muss daraus ziemlich zügig auch eine praktische, gemeinsame Strategie der EU-Mitgliedsländer werden. Wenn wir dabei unsere Interessen nicht energisch vertreten, hilft uns alleine das Bekenntnis zu unseren Werten auch nicht weiter.
SONST NOCH
Mein Interview mit dem Sender Phoenix aus der letzten Woche zu den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen.
Gemeinsam mit meiner Parlamentskollegin Viola von Cramon habe ich am Montag eine Konferenz zur neuen Studie von Ana Krstinovska und Vuk Vuksanović zum Thema „Das Engagement Chinas in der Rohstoffindustrie im Westbalkan“, veranstaltet.
Als Speaker geladen, war ich am Dienstag, auf dem „Competitive Europe Summit“ der Tageszeitung „Politico“ zu der Frage “Is the EU’s toolbox against unfair trade competition strong enough?“.
Am Mittwoch habe ich mit meinem Team eine Fotoaktion in Brüssel zur Solidarität mit DemokratInnen aus Hongkong organisiert. Wir erinnerten an die britische Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China am 1. Juli 1997 und an das am 30.06.2020 in Kraft getretene sogenannte Hongkonger nationale Sicherheitsgesetz. Tatsächlich sollte man es lieber ein Stasi-Gesetz nennen.
Am Mittwoch habe ich an einem Brüsseler China-Diskussionsforum teilgenommen und mit Experten über economic security und de-risking diskutiert.
Am Freitag und Samstag nehme ich an den Tocqueville Conversations in Frankreich teil. Die Konferenz steht in diesem Jahr unter dem Motto: “Tomorrow’s Europe. Rearming Democracy.” Dort spreche ich außerdem auf einem Panel zu „The end of the myth of perpetual peace.“