Der Titel klingt umständlich, den die Europäische Kommission für ihren jüngsten Aufschlag zur europäischen Industriepolitik gewählt hat. Das liegt zum einen selbstverständlich daran, dass eine solche politische Initiative auf jeden Fall viele Dimensionen, ganz verschiedene Akteure sowie unterschiedlichste Instrumente behandeln muss. Es liegt aber wohl auch daran, dass diese Überschrift zugleich drei Versprechen signalisieren soll, die gar nicht einfach unter einen Hut zu bringen sind: Die Industriestrategie soll dem European Green Deal entsprechen; sie soll für die ganze EU in ihrer großen industriepolitischen Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Horizont aufzeigen; sie soll Europas Wettbewerbsfähigkeit für die Ära der Transformation zu einer emissionsfreien Wirtschaft gewährleisten und sich den großen Herausforderungen gewachsen zeigen, die von anderen Wirtschaftsmächten auf uns zukommen.
Dass die EU sich große industriepolitische Pläne vornimmt, das ist nichts Neues. Die auf einem Sondergipfel des Europäischen Rates im März 2000 verabschiedete Lissabon-Strategie etwa sah vor, die Europäische Union solle binnen 10 Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissenschaftsgestützen Wirtschaftsraum der Welt“ werden. Die Lissabon-Strategie war ein Fehlschlag. Ihr fehlte damals noch eine klare und grüne Orientierung, und sie beruhte vor allem auf dem Vertrauen auf die allgemein selig machende Wirkung des Binnenmarktes. Als die große Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 zuschlug, stellte man in Brüssel und den nationalen Hauptstädten mit mehr oder weniger großer Verwunderung fest, dass die Lissabon-Strategie ein Lippenbekenntnis geblieben war.
Die zweite Kommission des Portugiesen Barroso entwickelte dann, angeführt von Präsident Barroso selbst, mit Industriekommissar Tajani und Energiekommissar Oettinger die Vision einer „Renaissance“ der europäischen Industrie. Dazu schrieb ich unter dem Titel „Reindustrialising Europe to promote competitiveness and sustainability“ einen Bericht, der 2013 vom Europäischen Parlament angenommen wurde. Die in dem Bericht dargelegte notwendige Verknüpfung zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit war nicht ganz unumstritten, aber ging klar über die Lissabon-Strategie hinaus. Der Bericht propagierte eine „Renaissance of Industry for a Sustainable Europe“ (RISE). Doch die industriepolitische Ambition der dann folgenden Juncker-Kommission (ab 2014) war außerordentlich überschaubar, um nicht zu sagen, hart an der Nachweisgrenze. Das Akronym RISE setzte sich nicht durch.
Jetzt, da die Kommission erneut industriepolitischen Ehrgeiz entwickeln will, haben sich die Rahmenbedingungen dafür noch einmal fundamental geändert. Dass die Europäische Union nur eine starke industriepolitische Zukunft haben kann, wenn die Industrie insgesamt grün wird, das steht inzwischen vor der Klammer. Der Optimismus, dass die EU das auch schaffen kann, steht aber auf deutlich wackligeren Beinen. Zwar betont die Kommission zu Beginn ihres industriepolitischen Strategiepapiers die Stärken und Erfolge der Union bei der Begrünung der Wirtschaft, doch tatsächlich ist es vor allem die Sorge, dass China, die USA und andere Akteure uns die grüne Butter vom Biobrot nehmen könnten, die den Motor hinter dieser Initiative ausmacht. Gegen Chinas unfaire Handels- und Investitionspraktiken hatte die EU über die letzten sechs Jahre durch die Entwicklung von verschiedenen Handelsschutzinstrumenten Widerstand zu leisten versucht, ohne dabei wirklich befriedigenden Erfolg zu erzielen. Doch das volle Ausmaß der industriepolitischen Herausforderung durch den staatsmonopolistischen Kapitalismus der KP Chinas ist immer noch eine Frage, die in der Politik wie in Wirtschaftskreisen unterschiedlich bewertet wird. Realistische Stimmen finden sich durchaus im Mittelstand oder bei Verbänden wie dem BDI, Business Europe oder dem VDMA. Aber Großkonzerne wie Volkswagen, BASF, Siemens und andere tun, egal aus welchen Gründen, immer noch so, als gäbe es eine Win-Win-Zukunft für die deutsch-chinesischen Industriebeziehungen, obwohl Peking seit der Strategie „Made in China 2025“ von 2016 ziemlich eindeutig gegenteilige strategische Botschaften sendet. Man ist versucht an den Frosch zu denken, der in einem langsam erhitzten Wasser schließlich gekocht wird.
Eine Schockwirkung dagegen löste die amerikanische Biden-Administration aus, als es Präsident Biden letztes Jahr gelang, unter dem missbräuchlichen Namen „Inflation Reduction Act“ (IRA) eine Großoffensive für Ökoinvestitionen – insgesamt über 360 Mrd. US-Dollar – dadurch im Kongress mehrheitsfähig zu machen, dass er diese mit einer rücksichtslos protektionistischen Herangehensweise verband. Darüber erschrak die EU zutiefst. Die Sorge griff mehr und mehr Raum, dass großzügige US-Subventionsangebote unter der Bedingung, dass in den USA produziert wird, in Verbindung mit niedrigeren Energiekosten zu massiven Abwanderungen europäischer Investitionen in die USA führen würde. Dass solche Ängste nicht aus der Luft gegriffen sind, hört man aus der Wirtschaft deutlich. Ähnliche Bedenken gegenüber Präsident Bidens grandiosem Subventionstopf gab es übrigens auch aus Großbritannien, aus Japan, aus Korea und aus Taiwan. Doch vielstimmige Klagen über unfreundliches Verhalten zu Lasten von Verbündeten konnten in Washington nicht viel erreichen. Gewisse definitorische Nachjustierungen wurden ins Auge gefasst, aber an der Gesamtwirkung der fraglichen US-Politik, deren öko-transformative Intention man ja gewiss loben muss, an Europas Wettbewerbsfähigkeit ändert das nicht so viel.
Der amerikanische Schock ist, würde ich sagen, ganz heilsam. Natürlich kann man sich darüber mokieren, dass Senator Manchin aus West-Virginia, der bei der Ausformulierung des bidenschen Programmes entscheidenden Anteil hatte, nicht wusste, dass es zwischen den USA und Europa kein Freihandelsabkommen gibt und deshalb eine Sprache wählte, die uns jetzt ins Kreuz schlägt. Aber das hilft ja nur der Selbstgerechtigkeit. Tatsächlich signalisiert das Vorgehen aus Washington, dass Biden und mit großer Sicherheit auch jedem denkbaren Nachfolger das Hemd näher ist als der Rock, das eigene US-amerikanische Interesse wichtiger als die Rücksichtnahme auf Verbündete. Wenn die EU der effektiven Bedrohung durch eine zwar nicht koordinierte, aber sich gegenseitig verstärkende chinesisch-amerikanische Zange etwas entgegensetzen will, muss sie die eigene grün- industriepolitische Ambition wesentlich verstärken.
Natürlich stellt sich schnell die Frage, wie die EU dabei auf einen Nenner kommen kann. Aus der französischen Hauptstadt hört man schnell, was man von dort immer hört, wenn Wirtschaftsstrategie zur Debatte steht: Schaffung nationaler Champions, Protektionismus, Colbertismus in Ewigkeit, Amen. Das findet dann aber in Berlin kaum jemand gut. Allerdings könnten sich Paris und Berlin wohl darauf einigen, europäische Beihilferegeln weiter zu liberalisieren. Aber auch die Sache hat einen Haken. Die wegen der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie verabredeten Beihilfeerleichterungen haben sich als gefährlicher Treibsatz für eine ökonomische Spaltung der EU erwiesen. 80% aller Beihilfen, die nach diesen erleichterten Regeln vergeben wurden, wurden von Frankreich und Deutschland vergeben, insbesondere von Deutschland. Diese zwei großen Staaten leisteten sich, was kleine EU-Nachbarn sich nicht leisten können. Einfach die Beihilferegeln weiter zu liberalisieren, würde die Schieflage im Binnenmarkt verstärken. Natürlich könnte die EU gemeinsam finanzierte Programme auflegen, um grüne Inventionen voranzutreiben, so wie sie es zur Bekämpfung der Pandemiefolgen bereits einmal gemacht hat. Dagegen jedoch steht der deutsche und holländische und österreichische und finnische und schwedische und so weiter Horror vor gemeinsamen Schulden. Die Kommission könnte auch vorschlagen, die Fragmentierung, die es in verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen trotz aller Bekenntnisse zum Binnenmarkt immer noch gibt, durch neue einheitlichere Binnenmarktregeln zu überwinden. Das allerdings würde auf viele nationale Befindlichkeiten stoßen, denn diese Fragmentierungen sind ja nicht zufällig bewahrt worden, und sicher nicht leicht durchzusetzen sein. Wachsender Handlungszwang, Zeitmangel, Widersprüche bei der Bewertung vorgeschlagener Optionen, das sind die Bedingungen unter denen die Kommission von der Leyen zusammen mit den Mitgliedssaaten und dem Europäischen Parlament eine tatkräftige Strategie entwickeln muss.
Im Strategiepapier der Kommission finden sich viele gute Argumente, manche klug gewählte Begriffe und lauter gute Absichten. Es findet sich auch mehrfach der berechtigte Hinweis auf die Dringlichkeit europäischen Handelns. Jetzt werden global die Weichen gestellt für die Ära der Null-Emissionswirtschaft, argumentiert die Kommission und hat damit recht. Im März soll der Europäische Rat das Thema befassen und gegebenenfalls Aufträge erteilen für eine Konkretisierung der Absichten. Man kann wohl davon ausgehen, dass das auch passiert. Doch danach werden dann alle Akteure Farbe bekennen müssen. Hic Rhodus, hic salta. Die EU müsste, um die Herausforderung zu bestehen, wieder einmal ihre legendäre Fähigkeit demonstrieren, in besonders kniffligen Situationen doch Auswege nach vorne zu finden. Und es geht dabei um nichts weniger als um die ökonomische Zukunft der EU und damit auch um ihre Zukunft als internationaler Akteur. In den USA gibt es, um die Konsequenzen solcher strategischen Entscheidungen plastisch zu machen, den netten Spruch: „Either you are at the table or on the menu.“ Optimistisch-pessimistisch würde ich sagen: Beides ist drin.
Sonst noch
Meine Pressemitteilung aus der letzten Woche zur Entscheidung der Bundesregierung, Leopard 2-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern.
In der letzten Woche habe ich außerdem dem MDR ein Interview zur neuen Positionierung der SPD im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik gegeben.
In dieser Woche habe ich online einen Vortrag an der Hochschule Fulda zum Thema „EU in the world and it’s position in the war against Ukraine“ gehalten und anschließend eine Diskussion mit den Studierenden geführt.
Meine Gratulation an die beiden neuen Grünen Thüringer MinisterInnen, Doreen Denstädt und Bernhard Stengele, die am Mittwoch, den 01. Februar vereidigt wurden.
Am Donnerstag, den 02. Februar, habe ich als Sprecher bei dem Bürgerdialog-Format „Lobbacher Gespräche“ zum Thema „China, der lauernde Drache – Die Neue Seidenstraße“ referiert.
Am Freitag, den 03. Februar, spreche ich bei einer Sitzung der Landesarbeitsgemeinschaft FREI (Frieden, Europa und Internationale Politik) aus Hessen zum Thema chinesische Außenpolitik.
Am Sonntag, den 05. Februar, nehme ich als Gastredner am Neujahrsempfang des Grünen Kreisverbandes Odenwald-Kraichgau teil.