“Der Konflikt um Taiwan ist real, hart und gefährlich” | Gastbeitrag, Welt am Sonntag

6./7. August – Der Westen muss Peking deutlich zeigen: Es hat bei einer Eskalation mehr zu verlieren als zu gewinnen, nur so lässt sich ein Krieg vermeiden. Einfach ist das nicht, schreibt Reinhard Bütikofer |

Nancy Pelosi hat mit einer Delegation des US-Kongresses Taiwan besucht. Die Volksrepublik China überschlug sich daraufhin fast mit Drohungen. Nun hat Pelosi lange Erfahrung darin, mächtigen Männern die Stirn zu bieten. Sie stritt mit George W. Bush, auch mit Barack Obama und besonders intensiv mit Donald Trump. Und Pelosis Interesse für Chinapolitik kann auch niemanden überraschen. Sie gilt seit Langem als “China hawk”.

So machten also Joe Biden und Xi Jinping die Erfahrung, dass die 82-jährige Abgeordnete einen durchsetzungsstarken Willen hat. Es wäre allerdings falsch, ihr nun eine Zuspitzung der Spannungen um Taiwan anzulasten. Ihr Besuch hat nur sichtbar gemacht, was sich in den letzten Jahren zusammenbraute: Peking versucht systematisch, die internationale Öffentlichkeit an den Gedanken zu gewöhnen, dass eine Einverleibung Taiwans seine unaufhaltbare Absicht ist. Pelosi hat ihre Reise zu Recht als Ausdruck der Solidarität mit dem demokratischen Taiwan gewertet. Die Visite als symbolisch zu bemängeln verkennt, dass hier das Symbol Substanz hat. Wenn von einer Provokation die Rede ist, dann gilt diese Bezeichnung eindeutig für den Versuch, einen parlamentarischen Besuch, wie er schon vorkam, durch militärische Drohgesten verhindern zu wollen.

Pelosis Reise hat auch in Deutschland Diskussionen ausgelöst. Aus meiner Sicht lautet dabei die Kernfrage: Sehen auch wir eine Verantwortung zur Solidarität mit Taiwan, oder folgen wir einer verzerrten Vorstellung von Realpolitik, die bereit ist, Taiwans Zukunft auf dem Altar unserer wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu opfern?

Taiwan ist eine sehr lebendige Demokratie. Eine Demokratie, in der mehrfach friedliche Machtwechsel zwischen konkurrierenden Parteien gelangen. In der frei über soziale Ungleichheit gestritten wird, für die Rechte von Indigenen und Wanderarbeitern, für Umweltpolitik, die Abschaffung der Todesstrafe, für Feminismus und LGBTQI+-Rechte. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hat Taiwan Großes geleistet. Lehrreich ist Taipehs Erfahrung mit Online-Einmischung von außen. Taiwan belegt an wirtschaftlicher Stärke weltweit Platz 21. Von seiner Halbleiterindustrie hängen alle modernen Industrien ab.

Taiwan hat es verdient, um seiner selbst willen wahrgenommen und als Partner ernst genommen zu werden, statt Bauer im Schachspiel der Großmächte zu sein. Die Menschen dort wollen nicht von Peking dominiert werden. Strategische Solidarität zwischen Demokratien muss Taiwan einschließen. Deshalb fordert das EU-Parlament ein Investitionsabkommen mit Taiwan und will, ebenso wie die Bundesregierung, Taiwan sinnvoll an Institutionen wie der WHO, der ICAO, Interpol oder UNFCCC beteiligt sehen. Dabei bleibt klar, dass wir im Rahmen der europäischen Ein-China-Politik die formelle Unabhängigkeit Taiwans ablehnen. Veränderungen des Status quo in der Straße von Taiwan dürfen nur friedlich und in gegenseitigem Einverständnis stattfinden.

Nun möchte aber Xi Jinping der kommunistische Parteikaiser werden, der China “wiedervereinigt”. Vor dem Hintergrund des putinschen Krieges gegen die Ukraine liegt daher die Frage nahe, womit wir bei Xi gegenüber Taiwan rechnen müssen. Tatsächlich gibt es, bei allen Unterschieden, Parallelen. Putins Vorstellung von der imperialen Größe Russlands kommt ohne die Unterwerfung der Ukraine unter das “brüderliche” Joch nicht aus. Xi Jingpings Traum von der “Wiederverjüngung der chinesischen Nation” und von der “Rückkehr” Chinas ins Zentrum der internationalen Ordnung geht ohne die Eingliederung Taiwans nicht auf. Während Putins Griff nach der Ukraine die europäische Stabilitätsarchitektur untergräbt, hätte Chinas Eroberung Taiwans dramatische, zerstörerische Auswirkungen auf das Bündnissystem der USA im Indopazifik. Nicht umsonst haben Xi und Putin im Februar einen revisionistischen Pakt geschlossen. Dieser gefährdet unsere Werte, Interessen, unsere demokratische Lebensweise.

Europa und Deutschland haben kein Interesse an Eskalation. Deshalb braucht es Umsicht unsererseits und gute Zusammenarbeit mit Partnern. Ökonomischer Druck aus China ist nicht mehr neu und wurde bisher zumeist erfolgreich beantwortet. Die Pekinger Blockadedrohung gegen Taipeh ist ernst zu nehmen, aber auch mit ihr ist umzugehen. Die Ukraine-Taiwan-Parallelität darf jedenfalls nicht zu Ängstlichkeit oder Fatalismus verführen. Die Taiwanerinnen und Taiwaner und auch wir können schließlich aus den Versäumnissen der europäischen Russlandpolitik lernen.

Die erste Lehre heißt: Der Konflikt um Taiwan ist real, hart, gefährlich, nicht wegzureden. Doch kann kluge Politik verhindern, dass er sich kriegerisch zuspitzt. Dazu müssen wir aber, zweite Lehre, eine Strategie entwickeln, Peking vom Krieg abzuhalten, und nicht ständig seiner Propaganda durch Kriegsgeraune unsererseits ins Blatt spielen. Der Großteil Europas, Deutschland mit vorneweg, hat das aggressive Treiben Russlands lange zu wenig beachtet. Gegenüber China muss der in den letzten drei Jahren herausgebildete europäische Konsens über die strategische Rivalität als ausschlaggebende Kategorie unserer Beziehungen in konsequente EU-Politik umgemünzt werden.

Sicherlich sind ökonomische Abhängigkeiten von China sehr relevant. Ein Konzern wie VW, der vielleicht 40 Prozent seines Umsatzes und 50 Prozent seiner Gewinne in China erwirtschaftet, kann nicht einfach auf dem Absatz kehrtmachen. Also ist, drittens, eine Industrie- und Handelspolitik, die Abhängigkeiten verringert, unverzichtbar.

Die vierte Lehre heißt Abschreckung. Die Führung in Peking muss verstehen, dass sie im Fall der Fälle den Aufstieg Chinas insgesamt riskiert. Bei Abschreckung geht es nicht nur um die Fähigkeit Taiwans zur Selbstverteidigung oder die militärische Unterstützung der USA. Europa sollte aufzeigen, dass eine Gewaltaktion gegen Taiwan für China auch wegen unserer Antwort politisch und ökonomisch außerordentlich teuer käme. Vielleicht kann das Peking plausibel machen, dass “historische Geduld”, wie sie Deng Xiaoping gegenüber Taiwan predigte, die bessere Option ist.

China ist mächtiger und selbstbewusster denn je. Wenn wir Taiwan alleinlassen, könnte Peking es ohne großes Risiko in den nächsten Jahren schlucken. Den Hypernationalisten in der KP kann es gar nicht schnell genug gehen. Doch welche Welt bekämen wir dann? Wenn die demokratische Welt Peking aber überzeugen kann, dass es bei einer militärischen Eskalation mehr zu verlieren hat als zu gewinnen, dann ist die Kriegsvermeidung möglich. Einfach wird das nicht.