Zeitenwende – Wendezeit? | BÜTIS WOCHE #230

Der Beginn von Russlands unprovoziertem, völkerrechtswidrigem Angriffs- und Eroberungskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar diesen Jahres kam für Deutschland und die Europäische Union als ein Schock. Es war ein “tectonic moment”. Drei Tage später sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sonntags-Sondersitzung des Bundestages dann von einer Zeitenwende. Dieses Wort, das er in seiner Rede fünf- oder sechsmal verwendete, ist seither zum Gemeingut geworden. Zeitenwende, das ist ein Begriff, der Gewicht hat. Auf Englisch übersetzt man ihn wahrscheinlich am besten als „historic turning point“. Zeitenwende bezeichnet ein Ereignis von säkularer Bedeutung. Zeitenwende verspricht, dass die Zeit vor und nach der Wende sich fundamental unterscheidet.

Olaf Scholz gab der Zeitenwende verteidigungspolitische Substanz, indem er mit zwei mehr oder weniger ehrwürdigen deutschen Traditionen brach. Er revidierte, nicht zuletzt auch auf Grünen Druck, die seit Jahrzehnten geltende prinzipielle Weigerung, Waffen in Konfliktgebiete zu exportieren. Er versprach der demokratischen Ukraine für ihren Widerstand gegen den russischen Überfall deutsche Waffenhilfe. Zum zweiten kassierte Olaf Scholz den jahrelangen Widerstand gegen durchgreifende Investitionen in die Ausrüstung der Bundeswehr. Diese Weigerung, einst als „Friedensdividende“ nach Ende des Kalten Krieges propagiert, war durchaus nicht nur bei der SPD und ihren AnhängerInnen populär gewesen. Auch wir Grüne hatten das von den Nato-Mitgliedern in Wales verabredete Ziel, zwei Prozent des BIP für Rüstung auszugeben, noch im Bundestagswahlprogramm abgelehnt. Dabei hatten etliche von uns durchaus eingeräumt, dass die Fähigkeiten der Bundeswehr dringend verbessert werden müssten. Allerdings missfiel uns die mechanistische Herangehensweise des 2%-Ziels. Tatsächlich wird ja in keinem Bereich öffentlicher Ausgaben das Geld so ineffizient verwendet wie bei der Rüstung. Es hilft nicht wirklich der Sicherheit, wenn ineffiziente Ausgaben einfach erhöht werden. Zudem leuchtet es nicht ein, dass ein Land mehr Panzer und Flugzeuge kaufen muss, wenn es seiner Wirtschaft gut geht, und dass es weniger Sicherheitsinvestitionen benötigt, wenn die Wirtschaft am Stock geht. Doch mit derlei Feinheiten hielt sich Scholz nun nicht mehr auf. Er versprach einen Sonderfonds von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und er versprach zudem, Deutschland werde in Zukunft regelmäßig mehr als zwei Prozent seines BIP für Rüstung verwenden.

Diese sicherheitspolitische Zeitenwende verschaffte dem Bundeskanzler, der zuvor wegen Zögerlichkeiten bei der Haltung seiner SPD in Bezug auf die erforderliche Solidarität mit der Ukraine unter Druck geraten war, ein großes persönliches Prestige. Da war, so die weit geteilte Wahrnehmung, ein Staatslenker, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte und ohne Rücksicht auf vorher lange verfochtene politische Positionen die Kraft seiner Einsicht in konkretes politisches Handeln umsetzte. Die Tatsache, dass die Unionsopposition dem Kanzler für diese Positionierung großen Beifall spendete, demonstrierte beispielhaft, wie sehr Scholz mit seiner Zeitenwende-Rede Führung zeigte. Das war die Einlösung des Versprechens, er werde führen, wo das gefordert sei, so schien es.

Seither ist der Glanz wieder verblasst. Scholz hat sich erneut und weit über die Grenzen Deutschlands hinaus das Ansehen verschafft, ein Kanzler der Zögerlichkeit zu sein. Ja, der Sonderfonds von 100 Mrd. Euro steht jetzt im Grundgesetz. Ja, der Bundestag vereinbarte, dass im mehrjährigen Schnitt das 2%-Ziel realisiert werde. Ja, Deutschland lieferte der Ukraine Waffen und versprach sogar, schwere Waffen zu liefern. Aber schon die sicherheitspolitische Zeitenwende hinkt sehr deutlich. Und vor allem ist inzwischen offenkundig, dass es dem Bundeskanzler bis jetzt nicht gelungen ist oder noch nicht einmal ein Anliegen war, die Zeitenwende in der erforderlichen Breite auszubuchstabieren. 

Das Hinken erkenne ich zum einen darin, dass bisher die Bundeswehrausrüstungsinitiative nicht erkennbar in gemeinsame europäische Anstrengung integriert ist, obwohl völlig klar ist, dass ohne stärkere EU-Zusammenarbeit bei Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen die derzeit vorherrschende Ineffizienz nicht überwunden werden kann. Immerhin geben die Mitgliedsländer der EU zusammengerechnet dafür bisher dreimal soviel Geld aus wie die russische Föderation, ohne sich damit ein vernünftiges Maß an Sicherheit zu erkaufen. Außerdem hinkt Scholz’ Sicherheitspolitik, weil die Versorgung der Ukraine mit Waffen äußerst unambitioniert betrieben wird. Man könnte fast sagen: Es sind inzwischen mehr Ausreden produziert worden, warum dies oder das noch nicht geliefert wurde, als an Waffensystemen in der Ukraine aus Deutschland ankamen. Ob diese Politik vor allem im Verteidigungsministerium zu verantworten ist oder im Kanzleramt oder im Zusammenwirken beider, lasse ich dahingestellt. Faktisch tut Deutschland weniger, als es tun könnte, und weniger als wir tun müssten, um der Ukraine in ihrem bitteren Abwehrkampf zu helfen. 

Auf der europäischen Ebene ist diese Zögerlichkeit ein ständiges Thema. Bei der Diskussion darüber schwanken die Reaktionen unserer europäischen Partner zwischen Unverständnis, Verzweiflung und harter Verurteilung. Aber es ist heute schon klar, dass der Vertrauensverlust, den Deutschland erleidet, weil die nach der Zeitenwende-Rede aufkeimende Erwartung an eine deutsche Führungsrolle in der Solidarität gegenüber der Ukraine bös enttäuscht wurde, uns noch auf viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nachhängen wird. Selbst diejenigen, die die deutsche Politik nicht, wie manche extremen Stimmen, als eine Versammlung von Hilfs-Russen denunzieren, äußern immer unverblümter ihre Kritik.

Je länger, desto mehr drängt sich aber in den Vordergrund, dass die Zeitenwende, von der so viel die Rede ist, gar nicht wirklich stattfindet, wenn sie nicht wesentlich vieldimensionaler verstanden wird, als das bisher der Fall war. Ich bin durchaus bereit einzuräumen, dass bezüglich der fossilen Energieabhängigkeit gegenüber Russland, wenn auch mit Verzögerung, eine grundsätzliche Umorientierung stattfindet. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der kritischen Zuspitzung der energiepolitischen Risiken, die in dieser Dimension ein Erbe von vier Regierungen unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel sind, die Beendigung der Energieabhängigkeit von Russland nicht völlig von jetzt auf gleich passieren kann und nicht insgesamt sofort mit einem durchgreifenden Umstieg auf nachhaltige Energiereformen verbunden werden kann. Die Ironie, dass ein grüner Wirtschafts- und Klimaminister in Katar um Erdgas bitten und an der deutschen Küste LNG-Terminals bauen lassen muss, verdanken wir dem Umstand, dass Frau Merkel es geschafft hat, den Anteil Russlands an der deutschen Gasversorgung von 35 Prozent zu Beginn ihrer Amtszeit auf 55 Prozent zu deren Ende zu steigern. Dass gleichzeitig wesentliche Energie-Infrastrukur in russische Hände gegeben wurde, verschärft jetzt die Probleme beim Umstieg. Aber immerhin ist eine Richtung zu erkennen. Es wird Robert Habeck und sein Ministerium große Mühe kosten, vom energiepolitischen Krisenmanagement, das akut vorherrschen muss, auf eine umfassende Energiewende überzuleiten. Inwiefern dabei beide Koalitionspartner mitziehen werden, ist heute noch nicht ausgemacht. Die politische Pleite der Bundesregierung beim Tankrabatt signalisiert in der Hinsicht noch viele mögliche Stolpersteine. Aber, wie gesagt, eine gute Richtung ist erkennbar.

Keineswegs klar ist dagegen, was die Zeitenwende insgesamt für Deutschlands internationale Politik und auch für unsere Industriepolitik bedeutet. Ich erkenne eine Menge status-quo-Verliebtheit.

Wir Grüne und viele andere kritische ZeitgenossInnen argumentieren, dass die Erfahrung mit der einseitigen Abhängigkeit von Russland im Energiebereich uns zu Schlussfolgerungen bezüglich anderer Abhängigkeiten führen muss. Das bezieht sich insbesondere auf China. Abhängigkeiten gibt es vom Zugang zum chinesischen Markt, von Lieferketten, in denen China eine dominante Rolle spielt, oder auch von Chinas zunehmend starker Rolle bei wichtigen Zukunftstechnologien. Eine Reihe von internationalen Großunternehmen aus Deutschland wie VW, Daimler, BMW, Siemens, BASF oder Allianz haben so viele Eier in den einen chinesischen Korb gepackt, dass sie besonders abhängig sind. Gerade von Vertretern aus diesem Lager wird nun systematisch eine Erzählung entwickelt, mit der die Notwendigkeit, diese Abhängigkeiten strategisch ins Auge zu fassen, untergraben werden soll. Die Erzählung heißt: Wenn wir jetzt schon mit Russland Schwierigkeiten haben, können wir uns nicht auch noch mit China anlegen. Dabei ginge es ja nicht darum, willkürlich Konflikte zu inszenieren. Es geht doch gar nicht darum, dass Unternehmen sich aktuell in vergleichbarer Weise aus China zurückziehen, wie sie das aus Russland getan haben. Wenn VW 40 Prozent seines Umsatzes und 50 Prozent seiner Gewinne in China verzeichnet oder die BASF 15 Prozent ihres Umsatzes und 25 Prozent ihrer Gewinne, dann können diese Unternehmen nicht einfach auf dem Absatz kehrt machen. Das fordert auch niemand. Aber dass China ein autoritäres Regime ist wie Russland, das eigene imperiale Ambitionen im Zweifel auch durch Ausnutzung ökonomischer Abhängigkeiten zu befördern trachtet wie Russland, sich dabei keineswegs verpflichtet sieht, sich im Rahmen der geltenden internationalen Rechtsordnung und des Multilateralismus zu bewegen wie Russland, das ist unbestreitbar.

Die Tatsache, dass die deutsche Wirtschaftsverflechtung mit China wesentlich stärker ist, als die mit Russland je war, müsste eigentlich gelesen werden als Warnung, strategisch größere Vorsicht an den Tag zu legen als gegenüber Russland. Unternehmen, die seit langem zu einseitig auf China gesetzt und andere Optionen vernachlässigt haben, wollen davon nichts wissen. Für die volkswirtschaftliche Perspektive Deutschlands ist ihre Kurzsichtigkeit allerdings gefährlich. Ein Mittelständler sagte mir vor kurzem: „Wenn man einen Kunden hat, mit dem man mehr als 30% des Geschäfts macht, dann hat man keinen Kunden, sondern eine Bedrohung.” Etwas vornehmer heißt das ein Klumpen-Risiko. Zur Zeitenwende müsste es gehören, solche Klumpen-Risiken wirklich ernst zu nehmen, politische Rahmensetzungen so vorzunehmen, dass diese reduziert werden, Resilienz im Zweifel über Kostenvorteile zu stellen. Bei der Umweltdebatte haben wir in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass es nicht markwirtschaftlich fair ist, Umweltrisiken, Klimarisiken etwa, zu externalisieren und so zu wirtschaften, als müsse niemand für die entsprechenden Kosten jemals aufkommen. Dasselbe Prinzip muss eigentlich auch für Fragen der nationalen Sicherheit gelten. Es kann nicht richtig sein, dass Firmen so wirtschaften, als verursachten sie nicht möglicherweise sehr relevante Kosten bei der nationalen Sicherheit, indem sie Abhängigkeiten zulassen oder sogar fördern. Dass die Erträge des Geschäfts privatisiert sind, während die national security-Kosten im Zweifel beim Staat bleiben, ist nicht einzusehen.

Darüber hinaus muss eine Zeitenwende-Politik auch realisieren, dass der Vorrang der Geopolitik gegenüber der Geoökonomie, den wir gerade erleben, eine Umorientierung unserer Industrie-, Wirtschafts- und Handelspolitik erforderlich macht. Die Abhängigkeiten, die wir im Moment in der breiten Öffentlichkeit noch weniger wahrnehmen als die bei Gesichtsmasken, seltenen Erden oder anderen Gütern aus China, die aber strategisch wesentlich wichtiger sind, sind Abhängigkeiten bei den technologischen Fähigkeiten. Es besteht durchaus das Risiko, dass uns China bei künstlicher Intelligenz, Quantencomputing, Additive Manufacturing und Blockchain so den Rang abläuft, dass sich daraus jahrzehntelange technologische Abhängigkeiten ergeben werden. Technologische Abhängigkeiten, um das klar zu sagen, sind für eine Industrienation wie Deutschland in jedem Fall hochproblematisch. Gegenüber einem systemischen Rivalen wie China jedoch sind sie potenziell fatal. Es ist rückblickend schlimm, dass Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Amtszeit diese Risiken mit einer fatalistischen Grundhaltung behandelte, die quasi die Unaufhaltsamkeit chinesischer Dominanz unterstellte. Zeitenwende würde bedeuten, mit diesem Denken zu brechen.

Zeitenwende würde auch bedeuten, rückwärtsblickend die Verfehlungen einzugestehen, die sich aus einer verhängnisvollen Fehlinterpretation der Entspannungspolitik von Willy Brandt ergaben. Ich habe bereits an einer anderer Stelle geschrieben, dass Brandts Entspannungspolitik mit ihrer Kombination aus Dialog und Abschreckung nicht gleichzusetzen ist mit einer Politik, die Dialog stattdessen mit Appeasement verbindet. Viel Selbstkritik derer, die dies parteiübergreifend, aber insbesondere in der SPD viele Jahre verfochten, war bisher nicht zu hören. Eine fundamentale Wende ist aber ohne Einsicht in die falsche Strategie vor der Zeitenwende nicht möglich.

Die Zeitenwende, die in Berlin am 27. Februar ausgerufen wurde, kam nach zutreffender Einschätzung vieler unserer europäischen Partner etwa aus Polen, Rumänien der Tschechischen Republik oder dem Baltikum reichlich spät. Putins Bruch mit den Prinzipien europäischer Sicherheitsarchitektur begann nicht erst im Februar 2020, sondern mindestens acht Jahre vorher. Es herrschte längst Wendezeit, bevor in Berlin die Notwendigkeit zur Zeitenwende erkannt wurde. Und eine Wendezeit ist es weiterhin. Die Vorstellung, mit einem einmaligen Ereignis, mit einer Rede, mit einigen sicherheitspolitischen Entscheidungen eine Zeitenwende zu bewirken, ist unrealistisch. Die Wendezeit, in der wir uns befinden, wird uns zu gründlicherem Umdenken herausfordern. Nicht alle sind dazu bereit, auch nicht in der Regierung. In der SPD gibt es nicht wenige, die gerne möglichst weitgehend so weitermachen würden wie vorher. In der CSU und in der CDU gibt es die auch. Auch in der Wirtschaft. Wir sollten uns weniger auf die von Kanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende einbilden und mehr auf die vielfältigen Herausforderungen dieser Wendezeit eingehen.

Annalena Baerbock sagte am Morgen nach der russischen Ukraine-Invasion, wir seien in einer anderen Welt aufgewacht. Wir müssten deswegen auch eine andere Politik machen. Das ist nach wie vor die große Aufgabe. Es ist übrigens nicht nur eine Aufgabe für die Regierung, sondern für unsere ganze Gesellschaft.


SONST NOCH

Meine Pressemitteilung zum Vorhaben der Europäischen Union alle mit Zwangsarbeit hergestellten Produkte zu verbieten.

14 Abgeordnete hatten Ende April einen Brief an Josep Borrell mitunterzeichnet, in dem es um die Ankündigung geht, dass China sich bereit erklärt hat, zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation zu ratifizieren. Hier ist seine Antwort. 

Diese Woche nehme ich am Stockholm China Forum des German Marshall Funds teil. Dort werde ich mich als Redner zu folgenden Fragen äußern: „Wie wird der russische Angriffskrieg unseren Umgang mit China beeinflussen?“, „Wie kann die transatlantische Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaftspolitik gegenüber China gestaltet werden?

Am 15. Juni nehme an einer Onlinediskussion mit litauischen PolitikerInnen und SicherheitsexpertInnen teil und äußere mich zu den Fragen: „Welche Rolle kann Deutschland und welche Rolle kann die EU in der europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen?“ 

Am Samstag nehme ich an der Thüringer Landesdelegiertenkonferenz in Leinefeld teil, dort wird ein neuer Landesvorstand gewählt. Ich halte ich einen Gastbeitrag zu den Xinjiang Police Files. 

Am Sonntag trete ich als Redner auf der jährlichen Versammlung des European Council on Foreign Relations in Berlin auf und spreche zum Thema wie Pekings Unterstützung für Russlands Krieg die EU-China Beziehungen beeinflusst.

Außerdem bin ich nach Singapur geflogen, um der Shangri-La-Konferenz beizuwohnen, dem asiatischen Äquivalent zur Münchner Sicherheitskonferenz. Themen waren die Rolle Europas, der USA und China, aber auch die Bedeutung der weiteren asiatischen Staaten in der Region und deren Entwicklung. Meine inhaltliche Einschätzung der Konferenz findet Ihr hier. Einige Eindrücke der Reise: