In der Öffentlichkeit haben sich allerhand Bezeichnungen für die aktuelle von Russland ausgehende große Krise der europäischen Sicherheit und Stabilität festgesetzt. Ziemlich oft ist von einer Ukraine-Krise die Rede, so als ginge das Problem von Kiew aus, oder von einer ukrainisch-russischen, als teilten sich beide Länder die Verantwortung für die Eskalation. Viel zu selten wird klar benannt, dass dieser Konflikt ganz in der Verantwortung von Wladimir Wladimirowitsch Putin liegt, einem bekennenden Stalin-Verehrer, und in seiner Bedeutung weit über die Gefährdung der Ukraine hinausreicht. Tatsächlich ist diese Krise gefährlicher als alles, was wir in Europa in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Sogar in der späteren Phase des Kalten Krieges gab es so eine heiße Zuspitzung nicht. So bitter es ist, die Kriegsgefahr ist real.
Dass Putin die Eigenstaatlichkeit und Souveränität der Ukraine in Zweifel zieht, das ist nicht neu. Damit hatte er schon vor 2014, vor der Annexion der Krim und vor der Aggression im Donbass begonnen. Er hat das seither immer wieder bekräftigt. Diese seine Auffassung ist kein Nebenaspekt russischer Politik, sondern integraler Bestandteil seiner Vorstellung von der imperialen Größe und Zukunft Russlands. Neu ist, dass er nun offen mit dem Gedanken spielt, die Ukraine mit militärischer Gewalt unter seine Fuchtel zu zwingen. Und neu ist insbesondere, dass er dabei nicht stehen bleibt, sondern mit seinen Forderungen an die NATO, die Europäer und die U.S.A. zugleich die sicherheitspolitische Oberhoheit über den ganzen postsowjetischen Raum in Europa einfordert. Putin will die Sicherheitsarchitektur, die seit dem Ende des Kalten Kriegs gewachsen ist, fundamental umstürzen. Er beansprucht eine russische Einflusszone, die sogar so weit gehen soll, die sicherheitspolitische Orientierung von Ländern wie Finnland und Schweden, die nie dem Warschauer Pakt angehört hatten, einem russischen Veto zu unterwerfen. Es war bemerkenswert, dass die finnische Ministerpräsidentin sich veranlasst sah, als Reaktion auf die russischen Forderungen explizit zu erklären, Finnland lasse sich seine Bündnispolitik nicht vorschreiben. Eigentlich ist dieses Prinzip, dass alle Länder Europas selber über ihre Bündniszugehörigkeiten entscheiden, ein gemeinsam mehrfach verankerter Grundsatz, den auch die Russische Föderation akzeptiert hatte. Putin sieht jetzt den Zeitpunkt gekommen, sich von sämtlichen Verpflichtungen loszusagen, die Russland nach dem Ende der Sowjetunion eingegangen war.
Es gibt auch in Deutschland Menschen, einen gerade in den Ruhestand versetzten Vizeadmiral etwa und vor allem PolitikerInnen der Linkspartei sowie der AfD, die der Auffassung sind, eigentlich sei das Problem eines des mangelnden Respekts gegenüber Russland. Eigentümlich ist, dass den Vertretern dieses Putin-Versteher-Narrativs bei uns irgendein Hinweis auf den notwendigen Respekt gegenüber den Ländern zwischen Deutschland und Russland so gut wie nie einfällt. Ihre Problembeschreibung ist so gewählt, dass das tatsächliche Problem gar nicht thematisiert werden kann. Der Großmachtanspruch Russlands gegenüber seinen Nachbarn wird quasi als unhintergehbare historische Konstante vorausgesetzt. Für Frieden sind dann alle die, die Russlands imperiale Ansprüche appeasementmäßig oder sogar mit Begeisterung rechtfertigen.
Wie kommt es, dass Putin jetzt eine solche Krise heraufbeschwört? Obwohl die Propaganda, dass „der Westen“ Russland einkreise, in Russland populär ist, gibt es dort nach allem, was man hört, keine Kriegsbegeisterung. Dass Putin unter dem Druck einer radikalisierten chauvinistischen öffentlichen Meinung agiere, kann man meines Erachtens nicht sagen. Dass er jetzt eskaliere, weil die U.S.A. oder die EU ihn aktuell provozierten, das wäre eine geradezu absurde Behauptung. Putin weiß seit der NATO-Konferenz 2008 in Bukarest, dass die Ukraine auf absehbare Zeit keinerlei Chance auf eine NATO-Mitgliedschaft hat. Das hatten dort Deutschland und Frankreich gegen den U.S.-Präsidenten Bush durchgesetzt. Putin weiß auch, dass eine EU-Integration der Ukraine für die nächsten 20 Jahre extrem unwahrscheinlich ist. Eine Notwendigkeit, etwas verbindlich auszuschließen, was ohnehin mittel- und langfristig keine reelle Chance hat, die gibt es nicht. Ich glaube, Putin agiert, wie er es tut, weil er die Europäer und die U.S.A. als konfus, uneinig und geschwächt wahrnimmt. Er hat sich sozusagen von Xi Jinping inspirieren lassen, der ja auch glaubt, es sei gerade eine günstige Zeit, die internationalen Kräfteverhältnisse fundamental zu ändern.
Tatsächlich ist von den vier wichtigen NATO-Hauptstädten Washington, London, Paris und Berlin keine auf die aktuelle Situation gut vorbereitet. Zwar hat die U.S.-Administration in Realisierung ihrer Führungsverantwortung trotz der tiefen Zerrissenheit der politischen Landschaft in den U.S.A. viel unternommen, um eine einheitliche Antwort gegen die russische Aggression zustande zu bringen, doch die Art und Weise, wie Paris, Berlin, Brüssel und London darauf reagiert haben, spricht Bände. Präsident Macron schwadronierte erst vor kurzem im Europäischen Parlament darüber, binnen weniger Wochen sollten die Europäer eine neue Stabilitäts- und Sicherheitspolitik für unseren Kontinent erarbeiten, diese dann der NATO mitteilen und mit den Russen verhandeln. Als könnte so etwas hopplahopp gelingen und als wäre es überhaupt eine gute Idee, die Sicherheit in Europa erst einmal ohne die NATO, unseren entscheidenden Sicherheitspfeiler, zu bedenken. Absurd. Aus Brüssel hörte man vor allem Gejammer darüber, dass man nicht genug gefragt werde, wenn es um Grundfragen der europäischen Sicherheit geht. Dabei ist die EU nun einmal sicherheitspolitisch nur dort eine Größe, wo sie ökonomisch agieren kann. Aus Berlin war trotz aller Bekenntnisse zu dem Grundsatz, dass es darum gehen müsse, Putin von einer militärischen Aggression abzuhalten, von verschiedenen Seiten vor allem zu vernehmen, was aber auf keinen Fall in Betracht käme: Stopp von Nord Stream 2, Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung an die Ukraine, Ausschluss vom SWIFT-System und so weiter. Wenn manche scharfen Deutschland-Kritiker von Appeasement gegenüber Russland sprechen, liegen sie leider nicht in jedem Fall falsch. Und London, wo die Regierung gerade wegen übel clownesker Aufführungen des Premierministers wackelt, versucht durch rhetorische Scharfmacherei zu glänzen. Trotzdem kann es sein, dass die Ansage, eine neuerliche militärische Aggression gegen die Ukraine werde Russland einen sehr hohen wirtschaftlichen Preis kosten, den Pokerspieler Putin am Ende doch noch überzeugt, auf dieses Risiko zu verzichten. Ausgemacht ist, denke ich, derzeit noch nichts. Doch jedes Zeichen mangelnder Geschlossenheit, jede Zögerlichkeit auf unserer Seite kann eine zu viel gewesen sein. Dass die U.S.A. angefangen haben, die Familienangehörigen ihres diplomatischen Personals aus der Ukraine herauszuholen, mag mancher als Alarmismus sehen. Ich denke, es zeigt, für wie nah sie die Gefahr eines tatsächlichen militärischen Konfliktes halten.
Welche Szenarien gibt es, wenn Putin seine Truppen tatsächlich losschickte? Ich sehe vier Hauptvarianten. Eine wäre ein Generalangriff zur Eroberung Kiews und der ganzen Ukraine. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, nur sehr begrenzt, etwa durch die Eroberung der Stadt Mariupol im Südosten der Ukraine, zuzuschlagen, um zu demonstrieren, dass Russland sich jederzeit holen könne, was es will. Denkbar wäre auch ein Vorstoß Moskaus, um die Gebiete zu erobern, die eine Landverbindung zwischen dem russisch dominierten Teil des Donbass und der von Russland annektierten Krim herstellen würden. Und schließlich könnte es russisches Ziel werden, die ukrainischen Verteidiger so schwer zu schlagen, dass die politische Führung der Ukraine daran zerbricht und Russland anschließend darüber mitbestimmen kann, wer die Ukraine regieren soll. Alle diese Szenarien würden nicht nur für viele Menschen in der Ukraine großes Leid bringen, sondern auch Schockwellen der Destabilisierung in ganz Ost- und Mitteleuropa auslösen. Wir lebten dann in einem sehr anderen Europa. Umso mehr lohnt es sich, genau zu bedenken, was wir bereit sind, zu tun, um einer solchen Entwicklung zu entgehen. Ich finde es richtig, dass sich die bundesdeutsche Politik ganz eindeutig auf eine nichtmilitärische Abschreckung konzentriert. Wer jetzt vor allem darüber diskutieren wollte, welche Waffen wir eigentlich der Ukraine liefern könnten, würde übersehen, dass solche Waffenlieferungen weniger Abschreckungswirkung hätten als die Bereitschaft zu wirtschaftlichen Sanktionen, die auch uns selbst Erhebliches abverlangen würden. Wer allerdings, wie Friedrich Merz, einer Einbeziehung von SWIFT von vornherein und kategorisch eine Absage erteilt, der hat im Unterschied zu Danyal Bayaz, dem baden-württembergischen Finanzminister, nicht begriffen, worum es geht. Einzelne mögliche Sanktionsschritte deswegen vom Tisch zu nehmen, weil das auch für uns Konsequenzen hätte, das kann nicht die alleinige Maxime unseres Handelns sein. Die kluge Abwägung im Einzelnen muss zwischen Europäern und den U.S.A. gemeinsam verabredet werden. Dabei ist die entscheidende Frage ebendie: Glauben wir, dass die Abschreckungswirkung gegenüber Russland groß genug ist?
Ich halte übrigens nichts von dem Argument, das möchte ich an dieser Stelle betonen, wir dürften der Ukraine schon „aus historischen Gründen“ keine Waffen liefern. Damit wird offenkundig auf die große Schuld angespielt, die Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gegenüber den Völkern der Sowjetunion auf sich geladen hat. Diese Schuld nicht zu ignorieren, ist ganz richtig. Aber unter der mörderischen Aggression Nazi-Deutschlands hat nicht nur das russische Volk gelitten, sondern auch das ukrainische, dessen Opfer keineswegs kleiner waren. Wer nur Russland ins Auge fasst, wenn er von deutscher Verantwortung redet, und nicht gleichzeitig die Verantwortung gegenüber der Ukraine thematisiert, der springt zu kurz. Würde Putin seine Truppen tatsächlich gegen die Ukraine in Bewegung setzen, müssten wir in Deutschland bereit sein, die Frage, was aus unserer Verantwortung folgt, neu zu beantworten.
Wie könnte ein Ausweg aussehen, der nicht nur den Krieg vermeidet, sondern auch dazu beiträgt, die Spannungen mittel- und langfristig zu verringern? Das wird offenbar sehr schwer, denn wir stecken schon tief in der Sackgasse. Aber Annalena Baerbock hat bei ihrem Besuch in Moskau einen sehr klugen Satz dazu gesagt, indem sie darauf verwies, dass Frieden und Sicherheit nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner Sankt Petersburgs, sondern auch für die Bukarests und anderer europäischer Städte gewährleistet werden müssen. Für alle beteiligten Seiten muss das Prinzip heißen: Wir bieten Sicherheit, wenn wir dafür selbst auch Sicherheit geboten bekommen. Mehr Transparenz bei Militärmanövern, wie es NATO und U.S.A. vorschlagen, wäre dafür sicherlich nötig, aber nur ein erster Schritt. Ein Sprint wäre der Versuch, zu einer praktisch realisierbaren Vorstellung von gemeinsamer Sicherheit zu kommen, sicherlich nicht, sondern ein Marathonlauf. Müsste dafür auch unsere Seite Zugeständnisse machen? Ohne jeden Zweifel. Aber diese dürften den Prinzipien der KSZE, der Charta von Paris und der UN-Charta nicht widersprechen. Gemeinsame Sicherheit kann allenfalls gelingen, wenn wir entschlossene ökonomische Abschreckung mit geduldiger Dialogbereitschaft verbinden, wenn wir Russlands Führung durch eine Mischung von Härte und Dialog auf seinem revisionistischen Weg aufhalten und gleichzeitig in Aussicht stellen, dass Russland bei Vermeidung eines Krieges besser abschneidet, als wenn es diesen führt. Dabei muss Deutschland eine zentrale Rolle spielen. Ohne Deutschland kann es nicht gelingen, die Kriegsgefahr einzuhegen. Das ist ein Kampf zweier Perspektiven und zweier Willen. Putin spielt nicht. Er meint es ernst. Wir müssen es auch sehr ernst meinen, wenn wir ihn von der Katastrophe abhalten wollen.
Sonst noch
- Meine ersten Plenarnotizen in diesem Jahr kommen aus Berlin. Thema der Woche auch hier: die russischen Aggressionen an der ukrainischen Grenze. Außerdem habe ich zur Lage der Demokratie in Hongkong gesprochen.
- „Europa – Die Parzen bei der Arbeit“ – das Bild des griechischen Heidelbergers Wassili Lepanto ist nach Hause ins Europäische Parlament gekommen. Meine Pressemitteilung dazu findet Ihr hier und die Bütis Woche hier.
- „EU darf sich nicht einschüchtern lassen“ – mein Interview mit dem Europamagazin des WDR zum aktuellen Russland-Konflikt und ein bisschen zum Olympia-Boykott.
- „Die Partei muss auch mal nein sagen“ – mein Interview mit Zeit Online.
- Meine Pressemitteilung zum informellen Treffen der EU-AußenministerInnen ist hier zu finden.
- Meine Pressemitteilung zur Debatte um die Forderungen des russischen Präsidenten Putin an NATO und EU könnt Ihr hier nachlesen.
- Am 4. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Peking. Ich habe T-Shirts und Jutebeutel designen und produzieren lassen, die für Menschenrechte in China eine klare Position artikulieren und insbesondere auf die brutale Unterdrückung der UigurInnen aufmerksam machen. Es wird hierzu auch Fotoaktionen in Brüssel, Berlin und Erfurt geben.