Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial mit Sitz in Moskau wurde schon 1987 gegründet, während der Gorbatschow-Zeit der Sowjetunion. Ihr Gründungsvorsitzender war Andrej Sacharow. Auf dem ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion war sie die erste regierungsunabhängige Organisation. Memorial wuchs auf eine Familie von etlichen Dutzend einzelnen Organisationen in Russland, anderen postsowjetischen Staaten und im weiteren Ausland an, blieb aber der ursprünglichen Mission immer treu, die Menschenrechte zu verteidigen und die Verbrechen des Stalinismus dem Vergessen zu entreißen.
Im November 2021, vor wenigen Tagen, hat das Putin-Regime bekannt gegeben, man wolle Memorial liquidieren. Ein entsprechender Antrag der Staatsanwaltschaft soll noch vor Ende des Monats verhandelt werden.
Das Vorgehen gegen Memorial bezeichnet eine Zäsur. Abgewickelt werden sollen nicht nur die zivilgesellschaftlichen Bewegungsspielräume der postsowjetischen Zeit; man will sogar zurück in die Zeit vor Gorbatschow. Putin hat sich entschieden, den chinesischen Weg zu gehen.
Memorial ist in all den Jahren auch so etwas wie ein moralisches Gewissen Russlands gewesen. In jährlichen Geschichtswettbewerben für Schülerinnen und Schüler schuf Memorial Gelegenheiten zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Memorial publizierte ein großes Buch mit den Biografien all der polnischen Offiziere und Soldaten, die von den Sowjets in Katyn ermordet worden waren. Memorial sammelte und dokumentierte Zeugnisse aus dem Gulag. Memorial hat das größte Archiv von Briefen deutscher Kriegsgefangener aus der Lagerhaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Memorial hat durchgesetzt, dass 1990 schon gegenüber der Lubjanka, dem berüchtigten Gefängnis im Zentrum Moskaus, in dem sowjetische Geheimdienste Menschen quälten, ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus errichtet wurde, nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben, aber doch ein öffentliches Denkmal. Dort fanden jährlich Lesungen statt mit den Namen der Opfer. Einige Leute von Memorial hatten selbst noch in der Lubjanka gesessen. Memorial hat mit verschiedenen Menschenrechtszentren auch die aktuelle Situation in Russland adressiert, etwa die besonders brutale Unterdrückung in Tschetschenien. Memorial ist keine Organisation mit parteipolitischer Zugehörigkeit, trat nie zu Wahlen an, war aber mit ihrer klaren Haltung immer ein Pfeiler der russischen Zivilgesellschaft.
Beim Grünen deutsch-russischen Dialog, den es seit 15 Jahren gibt, war Memorial einer der Hauptakteure. Ich erinnere mich an viele spannende Diskussionen, an denen sich auch Intellektuelle und Akademiker*innen beteiligten, zur Medwedew-Zeit jedenfalls, die durchaus Regierungszugang hatten. Memorial wollte nicht systemoppositionell sein, sondern in Russland dafür sorgen, dass die Orientierung an Menschenrechten zum unverzichtbaren Bestandteil der dortigen politischen Kultur wird. Dieser Weg geht, wie es aussieht, jetzt zu Ende. Arsenij Roginskij hatte mir einmal gesagt, er wolle nicht wieder zum Dissidenten im eigenen Land werden. Jetzt soll es sogar schlimmer kommen. Die Dissidenz soll unmöglich gemacht werden.
In den letzten Jahren hat Memorial ständig zunehmenden Druck erfahren und ausgehalten. Zahllose Untersuchungskommissare versuchten, der Organisation irgendwelche Gesetzesbrüche nachzusagen. Ohne Erfolg. Schließlich wurde Memorial, weil ein Teil der Finanzierung auch aus dem Westen kam, zum „ausländischen Agenten“ gemacht. Jede ihrer Äußerungen in jedweder Form sollte fortan von der Bemerkung eingeleitet werden „Memorial, ein ausländischer Agent, sagt…“. Dass Memorial das nicht ausnahmslos tat, soll jetzt die Basis für die Liquidierung werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass gegen einzelne Verantwortliche von Memorial strafrechtlich vorgegangen wird. International war der Schock groß, als die Liquidierungsabsicht bekannt wurde, und viele Stimmen bezeugten ihre Solidarität. Doch ob das die russischen Behörden insgesamt aufhält?
Die Geschichte von Memorial sollte unsere Lehrmeisterin sein. Memorial hatte gegen alle Wahrscheinlichkeiten, gegen eine zwar wankende, aber immer noch außerordentlich mächtige Diktatur der KPdSU und gegen die Verzagtheit, mit der im Westen viele immer nach Russland schauen wollten, 34 Jahre lang erfolgreich agiert. Personen wie Arsenij Roginskij, der leider viel zu früh starb, Elena Zhemkova und Irina Scherbakowa sind große Vorbilder an Integrität, Mut, Hartnäckigkeit und Optimismus des Willens. Die Glut, die sie nicht verlöschen ließen, müssen wir weitertragen.
Sonst noch
Obwohl das CAI noch nicht unterzeichnet und seine Ratifizierung durch das Europäische Parlament ungewiss ist, ist es an der Zeit, die (potenziellen) Auswirkungen der Bestimmungen des veröffentlichten Abkommensentwurfs zur technischen Normung zu überprüfen. Mit der Grünen/EFA-Fraktion habe ich eine Studie dazu in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse könnt Ihr hier auf Englisch nachlesen.
Zum Miniplenum in der letzten Woche habe ich Plenarnotizen “light” gedreht. Das Thema der Woche war die Misere an der polnisch-weißrussischen Grenze. Mehr dazu sowie die Gewinner und Verlierer, die Grünen Erfolge und meine Arbeit der Woche findet Ihr hier.
Meine Pressemitteilung zur Ausweitung der EU-Sanktionen gegen Belarus findet Ihr hier.
Am 17.11. spreche ich beim Grünen Russland-Forum über die deutsche Russland-Politik.
Am 19.11. nehme ich als Sprecher an der Veranstaltung „Europäisch-chinesische Beziehungen: Kooperation oder Konfrontation?“ der Frankfurt University of Applied Sciences teil. Ab 18 Uhr könnt Ihr die Veranstaltung im Livestream verfolgen.
Am 20.11 nehme ich an der 10. Schaumburger Plattform mit dem Titel “China – Bedrohung oder Partner für deutsche Interessen?” teil. Neben meiner Rolle als Panelist bin ich auch Schirmherr der Veranstaltung.
Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
Am 25.11. nehme ich am Europa Forum Luzern zum Thema „Die Schweiz und Europa im Banne Chinas“ teil und diskutiere die Frage „Quo vadis, Schweiz?“. Hier gibt es weitere Informationen.