„Alles ist drin“, dieser Satz steht über dem Bündnisgrünen Wahlprogramm für den 26. September. Es ist ein Satz mit einem doppelten Augenzwinkern. Einerseits spielt er leicht selbstironisch auf die Vollständigkeitsobsession Grüner Wahlprogramme an. Zum anderen liebäugelt er leichtfüßig mit der Vorstellung, unsere erste Grüne Kanzlerkandidatin, Annalena Baerbock, könnte ja tatsächlich Bundeskanzlerin werden. Seit Verabschiedung des Bundestagswahlprogramms sind 88 Tage vergangen. Bis zur Bundestagswahl sind es noch 17 Tage. Die letzten Monate brachten mehr Windungen und Wendungen, als normalerweise in eine politische Saison passen. Noch nie gab es einen Wahlkampf, in dem Umfragen zufolge zu unterschiedlichen Zeitpunkten drei verschiedene Parteien in Führung lagen. Noch nie gab es einen Wahlkampf, in dem ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber der Führungsfähigkeit der gesamten politischen Klasse sich in so drastischen Verschiebungen der Prognosen niederschlug. Noch nie waren weniger als drei Wochen vor dem Wahltag, zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Briefwählerinnen und Briefwähler ihre Entscheidung schon gefällt hatten, so zahlreiche Optionen für eine Mehrheitsbildung nach der Wahl offen.
Wie steht es nun mit dem kecken Grünen Sätzchen: „Alles ist drin“? Nun, die programmatische Fülle, mit der wir angetreten sind und die sich außerordentlich vorteilhaft abhebt gegenüber der Vagheit in den Programmen der Konkurrenz, vor allem der CDU/CSU, sie ist nicht geschwunden, aber auf den letzten Kilometern des Wahlkampfes sind, wie könnte es anders sein, verschiedene Elemente unseres programmatischen Angebots eben doch von ganz unterschiedlichem Gewicht. Im Zentrum sehe ich natürlich unsere gut durchdachte Botschaft zur Notwendigkeit und zur Umsetzbarkeit eines ökologischen, klimapolitischen, biodiversitätsbewussten Aufbruchs zu einer fundamentalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Hier liegt der Kern unserer Grünen Glaubwürdigkeit. Wir haben es zudem unter massivem Beschuss von politischen Gegnern und anderen Meinungsmachern geschafft, zu zeigen, dass wir uns der sozialen und industriepolitischen Erfordernisse für die Umsetzung dieses Programmes klar bewusst sind und dass wir dafür machbare Vorschläge haben. Annalena Baerbock, unsere Kanzlerkandidatin, Robert Habeck, der zweite Kandidat im Spitzenteam, und viele andere bis zu den Aktiven an den Infoständen machen dies immer wieder und völlig zu Recht zum zentralen Thema unserer politischen Kommunikation. Der Satz, dass es ohne starke Grüne in der Regierung diesen Aufbruch nicht geben wird, hat im Wahlkampf in der konkreten Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz nichts eingebüßt, sondern nur gewonnen. Die dramatischen Bilder von der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben die erschreckende Dringlichkeit in brutaler Weise betont. Eine zweite Grüne Stärke sehe ich im Bereich der Kinderpolitik, wo sich familiengerechter Umgang mit den einschneidenden Veränderungen durch die Pandemie mit den Perspektiven der sozialen Gerechtigkeit, der Geschlechtergerechtigkeit und der Bildungspolitik verschränkt. Die Kindergrundsicherung ist eines unserer wesentlichen politischen Vorhaben und Annalena Baerbock hat in allen ihren Auftritten zu diesen Fragen immer wieder eine überragende persönliche Glaubwürdigkeit gezeigt. Eine dritte politische Stärke für uns in diesem Wahlkampf ist, für manche vielleicht überraschend, die Außenpolitik. Bekenntnisse zur europäischen Berufung der deutschen Außenpolitik haben alle Spitzenkandidaten abgegeben, aber die Bereitschaft, unsere Verpflichtung auf die zentralen Werte der Demokratie, der Menschenrechte, des Rechtsstaats und des Multilateralismus zu wesentlichen operativen Elementen der deutschen Politik nach außen zu machen, diese Werte nicht im Zweifel einem kurzsichtigen Merkantilismus zu opfern und dazu gegenüber autoritären Regimen eine klare Kante zu fahren, diese Bereitschaft haben wir Grüne in diesem Wahlkampf deutlicher als die Konkurrenz gezeigt. Nun gibt es viele, die sagen, Außenpolitik entscheidet keine Wahl, und das ist sicher auch richtig, wenn man an das alltägliche Klein-Klein diplomatischer, entwicklungspolitischer und handelspolitischer Bemühungen denkt. Aber wo außenpolitische Fragen sich als Charakterfragen erweisen, da spielen sie für die Orientierung durchaus eine Rolle. Unübersehbar geworden ist das beim Afghanistan-Abzug, bei dem insbesondere die Bundesminister Maas und Seehofer so viel Schuld auf sich geladen haben, dass sie bei minimalem Selbstrespekt längst hätten zurücktreten müssen. Ich muss an dieser Stelle sicherlich die ganze Kritik nicht im Einzelnen wiederholen, die unsere Partei innerhalb und außerhalb des Bundestages mehrfach formuliert hat. Annalena hielt dazu im Parlament eine brillante Rede. Angesichts der Verantwortung Deutschlands in der EU und in der Welt sollten wir diese Grüne Stärke nicht verstecken.
In einer anderen Hinsicht ist, man muss ehrlich sein, wohl nicht mehr „alles drin“. Damit Annalena Baerbock nach dem 26. September ins Kanzleramt einziehen könnte, wäre ein Stimmungsumschwung im Wahlkampf erforderlich, der nicht realistisch erwartet werden kann. Dazu haben eigene Fehler beigetragen, die wir im Wahlkampf gemacht haben, und ich sage an dieser Stelle bewusst wir – und nicht bloß Annalena –, wobei es ja noch nie einen Wahlkampf ohne Fehler gegeben hat. Wir rangieren heute in den Umfragen deutlich niedriger als noch vor etlichen Wochen, sollten aber nicht vergessen, dass wir von 8,9 Prozent herkommen, die für uns 2017 zu Buche standen. Der Zuspruch zu Grüner Politik ist größer, als er je war. Aber er ist noch nicht so groß, dass uns hinreichend viele Menschen das Kanzleramt zutrauen. Ich sage das nicht, um zu trauern, sondern um den Blick darauf zu richten, dass wir mit der realistisch erreichbaren Stärke von zwischen 16 und 20 Prozent in der Lage sein werden, als eine von drei Parteien mit Führungsanspruch wesentliche Orientierungsentscheidungen der deutschen Politik massiv in unserem Sinne zu prägen.
Wenn man auf mögliche Koalitionsoptionen nach dem Wahltag schaut, und diese Frage bestimmt ja zunehmend die öffentliche Debatte, dann ist wiederum fast noch „alles drin“. Rechnerisch möglich erscheinen: eine Große Koalition mit umgekehrten Vorzeichen, sozusagen eine KoGro unter Führung der SPD; eine Belgien-Koalition mit CDU, SPD und FDP (man sollte nicht Deutschland-Koalition dazu sagen, denn die deutschen Nationalfarben sind Schwarz, Rot, Gold und nicht Schwarz, Rot, Gelb); eine Ampelkoalition; eine Kenia-Koalition mit CDU, SPD und Grünen; eine Jamaika-Koalition; oder Rot-Grün-Rot. Und sogar Rot-Grün. Dass manche dieser Optionen aus unserer Grünen Sicht ziemlich unverdaulich wären, liegt auf der Hand. Eine weitere Koalition zwischen CDU und SPD oder eine Belgien-Koalition wären einfach nur Stillstandsprojekte. In einer Jamaika-Koalition müssten wir Grüne uns in fast allen Fragen gegen eine konservative Front von CDU/CSU/FDP wehren. Rot-Grün-Rot ist meines Erachtens, auch wenn wir keine Ausschließeritis betreiben wollen, faktisch durch außenpolitische Haltung der Linkspartei verlegt. Kenia, das wäre GroKo gegen Grüne innerhalb derselben Regierung. Dann bleiben Ampel oder Rot-Grün. Wie schwierig in einer Ampel Kompromisse mit der FDP würden, hängt sicherlich auch an deren Ergebnis. Nach einer aktuellen Analyse des DIW sind die klimapolitischen Vorstellungen der FDP besonders schwach entwickelt. Aber selbst wenn wir es nur mit der SPD zu tun haben sollten, gäbe es keinen Grund, in idealistische Träumerei zu verfallen, so, wie wir das derzeit zum Teil von den Genossinnen und Genossen hören. Mit seiner Haltung etwa zum Kohlausstieg oder zu zentralen Fragen der Außenpolitik, mit seinem ganzen grundgängigen Konservatismus wäre Olaf Scholz kein einfacher Partner. Doch bin ich felsenfest überzeugt, dass wir Bündnisgrüne heute mit einer wesentlich breiteren und tieferen gesellschaftlichen Verankerung, als wir sie 1998 hatten, insbesondere mit Unterstützung für unsere Transformationsvorstellungen in weiten Kreisen der Wirtschaft, mehr bewegen können, als wir damals konnten. Wenn wir als starke Grüne in die nächste Regierung kommen, dann hat unser Land die Chance zum Aufbruch. Und ich erlebe es in Brüssel derzeit jeden Tag, wie sehr aus anderen Ländern Europas auf genau diese Chance geblickt und gehofft wird, und dies nicht nur von Grünen.
Es ist bei dieser Wahl für uns Bündnisgrüne mehr drin, als ich vor drei Jahren, als Annalena Baerbock und Robert Habeck zu Bundesvorsitzenden gewählt wurden, zu hoffen gewagt hätte. Die Tatsache, dass andere uns sehr energisch, und manchmal bösartig, bekämpfen, ist auch Ausdruck davon, wie sehr sie uns als Kraft ernst nehmen. Man müsste wohl nicht die Geschichte von einigen nicht ausgewiesenen Zitaten und ein paar Korrekturen am Lebenslauf der Kanzlerkandidatin bis zum Erbrechen wiederholen, wenn man wirklich der Meinung wäre, man habe es nicht mit einer außerordentlich ernsthaften politischen Alternative zu tun. Annalenas Glaubwürdigkeit permanent anknabbern zu wollen, das hätte ja wenig Sinn, wenn sie nicht durch ihr jahrelanges, verlässliches und kenntnisreiches Engagement für die ökologische Wende, durch ihr engagiertes Eintreten für die Belange von Familien und Kindern, durch ihre Klarheit in außenpolitischen Grundsatzfragen und durch ihre Fähigkeit, mehrheitsbildende Allianzen zusammenzubringen, als Konkurrentin hoch eingeschätzt würde.
Die letzte Wegstrecke des Wahlkampfes wird sicher noch einmal anstrengend und hart. Fürchten müssen wir sie nicht. Der Zuspruch an der Basis ist sehr stark. So viele so große öffentliche Veranstaltungen hatten wir in der Vergangenheit allenfalls in den Hochtagen von Joschka Fischer. Zahlreiche prominente Stimmen ermutigen uns und teilen unsere zentrale Botschaft. Aufbruch gibt es nur mit Grün.
Sonst noch
- Die Pressemitteilung der Grünen/EFA-Fraktion zum Truppenabzug aus Afghanistan sowie den Beratungen der EU-InnenministerInnen findet Ihr hier und meine Pressemitteilung zu diesem Thema hier.
- Am 2.9. wurde ich im phoenix tagesgespräch zur Afghanistan-Politik interviewt. Ihr könnt es Euch hier anschauen.
- Nach den jüngsten chinesischen Drohungen, Einschüchterungen und Schikanierungen habe ich gemeinsam mit dem litauischen Europaabgeordneten Petras Auštrevičius (Renew Europe) einen Offenen Solidaritätsbrief an den Präsidenten, den Premierminister und den Sprecher des Seimas der Republik Litauen initiiert. Unsere Pressemitteilung ist hier zu finden.
- Am 9.9. nehme ich als Redner an der Online-Diskussion „Chinese Economic Influence in Europe: The Governance and Climate Conundrum“ des „ Center for the Study of Democracy“ teil. Hier die Möglichkeit zur Anmeldung.
- Ebenfalls am 9.9. spreche ich beim Forum Frauenkirche Online „Die Europäische Union und China – Partner oder Rivalen in der Weltordnung von Morgen?“ teil. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es hier.
- Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.