#202 Die russische Pleite von M&M | BÜTIS WOCHE

Im Europäischen Rat hat Bundeskanzlerin Merkel in den vielen Jahren, seit sie ihm angehörte, wohl noch nie eine solche politische Niederlage erlebt, wie sie ihr beim Gipfel in der letzten Woche widerfuhr. Frau Merkel wollte zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron einen russlandpolitischen Überraschungscoup landen. Das ging bös schief. Die Pleite sollte der nächsten Bundesregierung zu denken geben.

Merkel und Macron versuchten, von den EU-27 ein Mandat zu erlangen für ihre Idee eines EU-Gipfels mit dem russischen Präsidenten Putin. Im Vorfeld des Zusammentreffens der Staats- und Regierungschefs hatte sich das deutsch-französische Tandem nicht etwa um eine gute Einbeziehung der anderen Europäer gekümmert, im Gegenteil: Sie hatten offenbar geglaubt, durch einen Überraschungsvorstoß der beiden größten Länder erwartbare Widerstände über den Haufen rennen zu können. Merkel und Macron hatten sich vielleicht davon inspirieren lassen, dass es ihnen Ende Dezember gelungen war, mit einem ähnlichen Vorgehen gegen erhebliches Unbehagen einer relativ stattlichen Zahl von EU-Mitgliedsländern die politische Einigung über das europäisch-chinesische Investitionsabkommen durchzuzocken. Doch das M&M-Kalkül ging schief. Die beiden Großstrategen hatten nicht eingerechnet, dass die Russland-Politik zahlreiche EU-Länder, insbesondere die in der östlichen Hälfte unseres Kontinents, so elementar betrifft, dass diese dabei Zähne zeigen würden. Nach ihrer Niederlage war Merkel sehr schmallippig und sprach von Enttäuschung. Doch bin ich gar nicht sicher, ob sie wirklich in der Lage ist, die Täuschungen hinter sich zu lassen, denen sie da aufgesessen war, ob sie noch in der Lage ist, zu verstehen, warum es gut ist, dass ihr Vorhaben scheiterte. Das politische Berlin jenseits des Kanzleramtes allerdings muss dringend aus dieser Erfahrung lernen.

Die Initiative von Merkel und Macron sollte erkennbar eine Reaktion darstellen auf das Treffen, das Biden mit seinem russischen Counterpart vor Kurzem in Genf hatte, so etwa nach dem Motto: Es kann nicht sein, dass Biden mit Putin gipfelt und die EU nicht. Diesen Ausgangsgedanken würde ich nicht als Sandkastenlogik abtun, wie das manche kritischen Kommentatoren nahelegten. Es ist keineswegs kindisch, ein Problem darin zu erkennen, dass zwischen den U.S.A. und Russland auf höchster Ebene ein Austausch stattfindet, während zwischen der EU und Russland die Beziehungen so schlecht sind wie sehr lange nicht mehr und der russische Außenminister sogar öffentlich verkündet, sein Land habe gar keine Beziehungen zur EU mehr, sondern werde sich zukünftig nur noch an die einzelnen Hauptstädte halten. Doch dann machten Merkel und Macron vier Fehler: Sie wählten den falschen Zeitpunkt, sie banden ihre EU-Nachbarn nicht ein, sie definierten kein klares Ziel und sie erdachten sich ein Format, durch welches die EU als Institution weiter geschwächt worden wäre.

Die Schwäche der europäischen Russland-Politik liegt im Kern im mangelnden Willen der Mitgliedsländer, sich auf die wichtigsten Ziele dieser Politik zu verständigen. Deutschland trägt einen erheblichen Teil der Verantwortung dafür, dass das so ist. Der Germany first-Egoismus, den CDU/CSU und SPD seit Jahren beim Projekt Nord Stream 2 demonstrieren, hat ohne Zweifel eine gefährlich spaltende Wirkung an den Tag gelegt. Auch Frankreichs Präsident hat seine Russland-Politik zuletzt nicht aus der Logik eines gemeinsamen europäischen Interesses entwickelt, sondern aus dem Bedürfnis, das an seinen Versprechungen und Leistungen verzweifelnde französische Publikum durch vermeintlich grandiose französische Außenpolitik zu beeindrucken. Auch andere Länder haben jeweils ihren Teil beigetragen. Manche baltische Rhetorik z. B. war so scharf, dass sie mindestens so viel Kopfschütteln wie Sympathie auslöste im Rest der EU. Und Polens Versuche, die Notwendigkeit zu einer europäischen Verständigung in der Russland-Politik durch Doppelpassspiel mit Donald Trump zu überwinden, waren auch nicht hilfreich. Es war der Hintergrund solcher Zerrissenheit, der den Hohen Repräsentanten der EU für Außenpolitik Borrell im Februar spektakulär in Russland scheitern ließ. Doch die Antwort darauf kann nicht darin liegen, nun einfach ein neues Format vorzuschlagen, noch dazu eines, bei dem die kleineren EU-Länder fürchten müssen, weniger Einfluss ausüben zu können als bei den normalen außenpolitischen Abstimmungsprozessen innerhalb der EU. Und es ist eine Todsünde wider den Geist europäischer Gemeinsamkeit in der Außenpolitik, wenn die größten Mitgliedstaaten, nachdem insbesondere auch als Folge ihrer Eigensüchteleien Borrell als Vertreter der gesamten EU exemplarisch gedemütigt worden war, dann kühl signalisieren, nun würden eben sie selbst die europäische Russland-Politik ganz an sich ziehen. Es kann ja durchaus sein, dass Berlin und Paris fest glauben, sie würden das alles viel besser machen, aber sie können es nicht europäischer machen. Und indem sie Moskau signalisieren, sie seien bereit, nun selbst das Heft in die Hand zu nehmen, präsentieren sie Putin einen grandiosen strategischen Erfolg. Sie ratifizieren sozusagen seine Entscheidung, die EU an die Seitenauslinie zum Zuschauen zu verbannen. Der Hohe Repräsentant für Außenpolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission und sein ganzer auswärtiger diplomatischer Dienst würden dann nur noch bürokratische Restposten sein ohne politische Bedeutung, vielleicht gerade gut genug, allfällige Schreibarbeiten zu erledigen. Borrell alleine ist zu schwach, um sich dagegen erfolgreich zu wehren. Das Europäische Parlament, das an einer solchen Entwicklung keinerlei Interesse haben kann, bringt in der Außenpolitik auch nur zu wenig Gewicht auf die Matte. Aber für die kleineren EU-Länder, für die eine solche strategische Entwicklung ihre eigene Mediatisierung bedeuten würde, gab es genug Hebel zum Blockieren und sie haben sie erfreulicherweise entschlossen genutzt.

Die EU kann weder Merkel und Macron folgen, wenn sie gemeinsam erfolgreich sein will, noch kann sie es beim bejammernswerten Status quo belassen. Wo also ansetzen für einen Weg nach vorne? Ich glaube, dass wir Europäer dabei von Biden lernen können. Bezeichnend an seinem Russland-Gipfel war nicht, dass dieser stattfand, sondern welche Bedeutung und welchen Zweck er ihm gab. Zunächst einmal startete Biden mit der nüchternen Analyse, dass Russland ein strategischer Opponent ist und dass nicht erkennbar ist, wie sich das absehbar ändern könnte. Da liegt schon ein wesentlicher Unterschied zur Einschätzung etwa in Berlin, wo trotz aller gegenteiliger Erfahrung eine politische Nostalgie gegenüber Russland dominant ist. Man kann ja auch mit einem Gegner kooperieren, aber nur, wenn man sich dabei nicht selber einredet, dass diese Kooperation an der Tatsache der Gegnerschaft etwas ändern würde. In der CDU/CSU und in der SPD aber herrscht die Neigung vor, diese minimale Klarheit zu verweigern. Man macht mit einem strategischen Gegner keine gemeinsamen strategischen Projekte zulasten der eigenen Verbündeten und Partner und versteckt das dann unter der Ausrede, es gehe nur ums Geschäft. Einer solchen Russland-Politik müssen die europäischen Partner und die U.S.A. mit Misstrauen begegnen. Die klare Benennung dessen, was ist, muss daher der erste Schritt sein für eine gemeinsame europäische Russland-Politik. Zweitens darf man keine unrealistischen Ziele sich setzen, sondern muss nüchtern gangbare Schritte identifizieren, für die es gerade auch bei der anerkannten Gegnerschaft eine Chance gibt. Das hat Biden gemacht. In Paris oder Berlin aber werden immer wieder russlandpolitische Erwartungen gefüttert, die unrealistisch sind, weil man statt konkreter, kontrollierbarer Fortschritte irgendeine Träumerei von Versöhnung verfolgt. Ich bin überzeugt, dass die Chancen auf gemeinsame europäische Anstrengungen für solche konkreten Ziele steigen würden, wenn diese pragmatisch bestimmt wären und nicht fast schon metaphysisch überhöht. Drittens muss die EU gegenüber Russland nicht auf Vertrauen hoffen, sondern die Überprüfbarkeit der Einhaltung getroffener Vereinbarungen zum Wahrheitsmaßstab machen: Distrust and verify.

Ich glaube, dass Josep Borrell die richtige Adresse ist, wenn wir jemand finden wollen, der eine zeitgemäße Russland-Politik für die EU konzipieren kann. Für ihn spricht seine intellektuelle und analytische Stärke, dass er nicht aus einer der europäischen Hauptstädte kommt, deren Russland-Politik wegen lange gezüchteter Idiosynkrasien der Suche nach Gemeinsamkeit im Weg steht, und weil er aus eigener Erfahrung genug Leidensdruck hat. Es wäre deswegen ein guter Schritt, wenn die nächste Bundesregierung in bewusstem Bruch mit Merkel im EU-Kreis signalisieren würde, dass sie Borrell bei dieser Aufgabe stützen und dass sie damit auch den europäischen Institutionen für die Russland-Politik das erforderliche Gewicht schaffen will, das diesen gerade abgeht. CDU-Kanzlerkandidat Laschet ist bis jetzt von einer solchen Einsicht himmelweit entfernt. Tatsächlich ist die beste Hoffnung derer, die nicht die russlandpolitische Zerlegung der EU wollen, dass wir Grüne im September so stark werden, wie es irgend geht.

Sonst noch

  • Meine Pressemitteilung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates könnt Ihr hier nachlesen.
  • Am 28.6. hat Mary Lawlor, unabhängige UN-Berichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidigern, ihre Befürchtungen zur Situation von Menschenrechtsverteidigern in China geäußert. 
  • Am 29.6. nehme ich an „POLITICO’S Competitive Europe Summit“ teil und werde zum Thema „EU-China dream strategy: What does the future hold?“ diskutieren. Weitere Informationen, die Möglichkeit zur Anmeldung und den Live-Stream findet Ihr hier.
  • Am 30.06. diskutiere ich mit Johannes Schmalzl, Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart, bei der Online-Veranstaltung „Menschenrechte oder Marktanteile – wie gehen wir mit China um?“ der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier.
  • Am 1.7. veranstalte ich gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt und Margarete Bause die Online-Diskussion „Spotlight Hong Kong: Zwischen Demokratie und Repression“. Hier gibt es nähere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung.
  • Habemus Landtagswahlprogramm. Am Wochenende beschloss die Delegiertenkonferenz der Thüringer Bündnisgrünen einstimmig das Wahlprogramm für die geplante Landtagswahl im September, an dem ich in den Bereichen Wirtschaftspolitik und Europapolitik mitgewirkt hatte. Der beschlossene Text wird, sobald die Redaktionsarbeit geleistet ist, zugänglich sein über die Website der Thüringer Bündnisgrünen. 
  • Die Thüringer Landesdelegiertenkonferenz stellte auch die Landesliste zur Bundestagswahl auf mit insgesamt 14 Namen. Ich gratuliere insbesondere der Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt und der sehr aussichtsreichen Nummer zwei Heiko Knopf aus Jena. 
  • In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.