No. VI René Böll, Deutschland

Am 20. August 1968 reisten meine Eltern, Annemarie und Heinrich Böll, mit mir auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes nach Prag. Für mich, gerade Zwanzig geworden, sollte es der erste Aufenthalt in dem Land werden, zu dem unsere Familie eine besondere Beziehung hatte, das gleichsam ein Stück Heimat bedeutete und Vertrautheit ausströmte, wenn meine Mutter von ihm erzählte. Denn sie war es, die, im Juni 1910 in Pilsen geboren, dort ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Wir ahnten nicht, dass wir Augenzeugen eines historischen Ereignisses werden würden: des Einmarsches der Truppen einiger – nicht aller – Staaten des Warschauer Paktes.

Das Anliegen, die Entwicklung eines, wie es hieß, ›Sozialismus mit menschlichen Antlitz‹ zu erörtern und vor allem auch die Rolle der Literatur zu befragen und zu diskutieren, was der Anlass der Einladung des Schriftstellerverbandes war, wurde mit Gewalt erstickt. In seinem Artikel »Der Panzer zielte auf Kafka« erwähnte mein Vater an einer Stelle einen in seinen Augen leichtsinnig agierenden jungen Westdeutschen, der mit vorgehaltener Maschinenpistole gezwungen werden sollte, seine Kamera abzugeben, dazu aber nicht bereit war. Dieser Westdeutsche war ich, der Schauplatz des geschilderten Ereignisses der Altstädter Ring, den ich anlässlich meiner Reise im letzten Jahr natürlich noch einmal aufsuchte. Als ich im Juli diesen Jahres auf dem Altstädter Ring vor dem Hus Denkmal stand und meiner Familie vorlas, was ich damals hier erlebte, klang das nahezu unwirklich an diesem Ort, umgeben von den vielen Touristen, ein Platz voller Kommerz, mit dem üblichen Nepp und Kitsch. Auch hier – wo damals die Panzer standen – hat McDonalds gesiegt.

René Böll, geboren 1948 in Köln, Maler und Graphiker; www.rene-boell.de. Bei Kiepenheuer & Witsch gab er vor Kurzem das Buch „Der Panzer zielte auf Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling“ heraus.