No. XXXIV Ulrike Lunacek, Österreich

21. AUGUST 1968

Elf Jahre war ich alt damals im August, und auf Sommerfrische mit meiner Wiener Oma in Lasberg im nördlichen Mühlviertel, die tschechoslowakische Grenze gerade einmal 20 km entfernt. Wie jeden Tag in der Früh hörte meine Großmutter die morgendlichen Nachrichten im Radio – und saß auf einmal kerzengerade im Bett, stammelte vor lauter Schreck nur einen kurzen Satz: ‚Die Russen sind einmarschiert!‘

Beim Frühstück dann erklärte sie mir, immer noch aufgewühlt, dass ‚die Russen‘ in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, und dass sie Angst hatte, dass ‚die Russen‘, die sie schon aus der Besatzungszeit in schlechter Erinnerung hatte, gleich auch ins neutrale Österreich einmarschieren und wir unsere Freiheit wieder verlieren würden: Damals war der Staatsvertrag und der Abzug der vier Allierten ja gerade einmal 13 Jahre her.

Dieser 21. August 1968 war mein erstes bewußt erlebtes politisches Ereignis; geprägt noch dazu von einem Besuch in Marianske Lazne kurz davor, im Mai 1968, mit meinem Eltern und meinem Bruder, bei der Familie eines mit meinem Vater befreundeten Molkereidirektor-Kollegen in Marienbad. Damals hatten wir nicht nur die berühmten Bäder in Marienbad und Karlovy Vary besucht (inkl. versteinerte Rosen bekommen), sondern ich hatte den Erwachsenen neugierig zugehört, als sie über den ‚Prager Frühling‘ gesprochen haben, über Dubcek, und seine Versuche, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben. Auch Radovan Piskacek, so hieß der Freund meines Vaters, engagierte sich im Prager Frühling. Er wurde nach diesem 21. August seines Postens enthoben und mußte bis zu seiner Pensionierung als Hilfsarbeiter arbeiten.

Dieser 21. August 1968 – und die Tatsache, dass ich vorher Menschen kennengelernt hatte, die von diesem Einmarsch persönlich betroffen waren – hat wohl einiges dazu beigetragen, dass mich Politik zu interessieren begann.

Ulrike Lunacek war von 1999-2009 Nationalratsabgeordnete für die österreichischen Grünen, und von 2009-2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, von 2014-2017 dessen Vizepräsidentin. Seit Anfang 2018 ist sie freiberuflich tätig, als Lektorin und Vortragende.