So viel Hektik in der Europapolitik wie derzeit habe ich noch nicht erlebt. Man möchte fast von den „Vereinigten Hühnerhaufen von Europa“ sprechen. Deutschland, das unsere europäischen Partner fast ein ganzes Jahr warten ließ, bevor die endlich wiedergewählte Bundeskanzlerin signalisierte, wie wohl die Antwort der neuen Bundesregierung auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Macron aussehen würde, Deutschland trägt derzeit besonders viel zum Erregungspegel bei. Und Deutschland demonstriert in geradezu exemplarischer Weise, wie unauflöslich sich inzwischen Europapolitik und Innenpolitik in allen EU-Hauptstädten verschlingen. Die öffentliche Debatte in den Medien, den traditionellen wie den elektronischen, heizt mit ihrer Atemlosigkeit die allgemeine Aufgeregtheit zusätzlich auf. Der Druck auf die zentralen Akteure steigt fast ins Unermessliche. Kann es in einer solchen Situation überhaupt eine tragfähige Lösung geben?
Ich weiß nicht, ob Frau Merkel Yoga übt, aber das Maß an stoischer Langeweile, mit dem sie in ihrer typischen Art versucht, die Hektik an sich abprallen zu lassen, sofern das geht, ist beeindruckend. Nicht, dass die Kanzlerin keine Fehler machte, doch ihre Methode, Probleme verbissen kleinarbeiten zu wollen, erinnert mich an ein Uhland-Gedicht, dessen paraphrasierte Fassung heißen könnte: „Die schwäbische Hausfrau forcht sich nit, geht ihres Weges Schritt für Schritt.“ Lange wird dieser Weg wohl nicht mehr sein, sagen die allermeisten Auguren. Die Partei derer, die glauben, Merkel könne die Bundestagswahl 2021 als Kanzlerin erreichen, hätte Schwierigkeiten, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Doch, so hoffen nicht wenige, ganz gewiss auch unter den Grünen-Wählerinnen und -Wählern, vielleicht könnte sie wenigstens das noch leisten, dass sie hilft, einen Weg zu finden, um den Schlamassel hinter uns zu lassen, in dem der europäische Horizont derzeit zu versinken droht. Oder hat sie die Kraft nicht mehr?
Die Zentrifugalkräfte nehmen wöchentlich zu. Es ist noch vor kurzem fast eine Selbstverständlichkeit gewesen, Deutschland, dieses zutiefst vom Glauben an das europäische Einigungsprojekt geprägte Land, grundsätzlich und vorteilhaft abzuheben vom nationalistischen Kurs der Regierenden in Warschau, in Budapest oder zuletzt in Rom. Doch die innenpolitische Debatte hierzulande zerstört solche Selbstgewissheit und lässt sie als Selbstgerechtigkeit erscheinen. Die AfD ist ohnehin antieuropäisch. Die CSU eifert ihr nach Kräften nach. Mit Ausnahme von Manfred Weber, dem EVP-Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament, gibt es in deren Führung anscheinend niemanden mehr, der seine Verantwortung nach irgendetwas anderem als dem unbedingten Streben nach einer absoluten Mehrheit bei der bayerischen Landtagswahl bemisst. Herr Söder, dieses Schmutzel-Genie, hat sogar gleich ganz generell dem Multilateralismus den Laufpass gegeben. In der CDU hält Merkel die Stimmen derer, denen der CSU-Kurs lieber wäre, noch in Schach, ohne jedoch verbergen zu können, dass auch dort eine proeuropäische Geschlossenheit inzwischen nicht mehr gewährleistet ist. Die SPD ist so sehr nur noch ein Schatten ihrer selbst, dass sie sich anscheinend täglich darüber wundert, noch in der Regierung zu sitzen, und ob dieser Verwunderung das Regieren und die Präsentation eigener Perspektiven weitgehend vergisst. Die FDP besteht politisch nur aus ihrem Vorsitzenden Lindner, der vor allem damit beschäftigt zu sein scheint, darüber nachzudenken, wie er möglichst wirksam „MMW“ – „Merkel muss weg“ sagen kann, ohne dass es ganz wie bei Dobrindt oder Meuthen klingt.
Wen gibt es noch? Uns Grüne, klar. Sarkastisch gesagt: Leider stimmt inzwischen, was wir schon seit längerem behaupten, dass wir als einzige verlässliche Europapartei in der Landschaft stehen. Wolfgang Schäuble ist eine eigenständige proeuropäische Kraft. Die Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ auch, wenn auch klein, wie wir. Die meisten Qualitätsmedien sind auf der Seite Europas. Die Europäischen Föderalisten, die Europa-Union und die Europäische Bewegung Deutschland spielen öffentlich keine Rolle. Die Chefs der großen Wirtschaftsverbände und Unternehmen haben ganz überwiegend andere Prioritäten, wie es aussieht. Öffentliche Intellektuelle? Könnte es aus der Bürgerschaft so etwas geben wie eine gemeinsame Bewegung der Demokraten für Europa?
Es heißt so schön, in der Gefahr wüchse „das Rettende auch“. Das muss jetzt aber schnell wachsen! Am liebsten würde ich an dem Gras ziehen, damit es schneller wächst.
Sonst noch
- Die Fraktion der Grünen/EFA hat einen überparteilichen Brief an Antonio Tajani, Präsident des Europäischen Parlaments, organisiert. Darin wird er aufgefordert, sich gegen die jüngsten rassistischen und diskriminierenden Äußerungen einiger europäischer politischer Führer auszusprechen.
- Die von mir in Auftrag gegebenen Studie „The Europeanisation of National Parliaments in European Union Member States: Experiences and Best Practices“ wird am 02.07. in Berlin vorgestellt. Hier gibt es Informationen zu Studie und Veranstaltung. Eine Anmeldung ist noch bis zum 27.06. möglich.
- Die Pressemitteilung von Monica Frassoni und mir zum Ausgang der Parlamentswahlen in der Türkei könnt Ihr hier nachlesen.
- Meine Pressemitteilung zu den EU-Gegenzöllen auf US-amerikanische Produkte ist hier und zum Treffen der EU-Außen- und Verteidigungsminister hier zu finden.
- Am Mittwoch bin ich in Berlin bei einem Treffen deutscher Teilnehmer*innen des Stockholm China Forums. Das Stockholm China Forum bringt seit über 10 Jahren regelmäßig europäische und US-amerikanische China-Expert*innen mit chinesischen Akademiker*innen und Think-Tank-Leuten zusammen. Ich werde auf dem Panel zu „Investment and influence: Political influence and its implications” sprechen.
- Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, viele Themen stehen auf der Agenda: Aussprache mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki über die Zukunft Europas, Europäisches Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich, Reform des Wahlrechts der EU, Haushaltsplan 2019 und mehr.