Am Sonntag und Montag letzter Woche war ich in Warschau. Anlass des Besuches war die Vorstellung einer Studie zum CO2-Risiko wichtiger polnischer Wirtschaftsbranchen, über die (siehe unten) seither Bloomberg News berichtet hat. Ich nutzte aber auch die Gelegenheit der Visite, um über die europäische Flüchtlingspolitik zu reden, bei der die neue polnische Regierung eine harte Haltung einnimmt. Ursprünglich hatte die Vorgängerregierung in 2015 zugesagt, dass Polen für etwas über 7.000 von den insgesamt 160.000 entsprechend eines Beschlusses der 28 Mitgliedsstaaten europaweit zu verteilenden Flüchtlingen die Verantwortung übernehmen werde. Im Moment will davon dort niemand mehr etwas wissen; man verhandelt stattdessen gerade über die ersten 400!
Vor diesem Hintergrund sprach ich mit dem Chef der neuen Oppositionspartei Nowoczesna. Diese Partei wird als “liberal” etikettiert und präsentiert sich selbst gerne als “modern”. Gäbe es morgen polnische Neuwahlen, würde sie wahrscheinlich eine Mehrheit bekommen. Über das, was ich von Herrn Petru von Nowoczesna hörte, war ich hell entsetzt. 7.000 Flüchtlinge nach Polen nehmen? Nie und nimmer. Europäische Grenzen schließen! Die Standards der europäischen Asylpolitik drastisch absenken, damit die “Anreize” schwinden nach Europa zu flüchten! Was, man kann sich den Verpflichtungen nach der Genfer-Flüchtlingskonvention nicht entziehen? Natürlich kann man, man muss nur die Definition dessen, was ein Flüchtling ist, so lange ändern bis keiner mehr darunter fällt! Die letzten Sätze sind alles keine wörtlichen Zitate, aber das war die Botschaft. Wie gesagt: Das ist die liberale Opposition. Und warum erzähle ich das? Weil solche Haltungen für den europäischen Mainstream prägend sind.
Deutschland ist mit der Politik keine Obergrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu verhängen und die deutschen Grenzen nicht zu schließen in der EU weitgehend isoliert. Zugleich erhöhen verschiedene Akteure den Druck auf die Bundesregierung. Herr Tusk oder der niederländische Premierminister Rutte haben in der letzten Straßburg-Woche angekündigt, bis März müsste “die Lösung” da sein. Welche Lösung sie meinen, sagen sie nicht genau. Aber sie lassen es deutlich genug durchblicken. Entweder die Bundesrepublik bringt die Türkei dazu, ihre Grenzen soweit zu schließen, dass nur noch wenige Menschen durchkommen oder gar keine mehr, oder sie muss dazu gebracht werden endlich ihre nationalen Grenzen dichtzumachen, wie zuletzt Österreich. Dass damit mindestens das vorläufige Ende von Schengen eingeleitet würde, wird von den Vertretern solcher Positionen mit einem erstaunlichen Fatalismus hingenommen. Ist Europa wirklich so kraftlos geworden, dass wir nicht mehr zu einer gemeinsamen und zugleich humanitären Lösung finden?
Am meisten hakt eine humanitäre europäische Lösung an der Frage der Verteilung der Flüchtlinge über die verschiedenen Länder. Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dieses könne nach einem allgemeinen abstrakten Verteilungsschlüssel geschehen, so wie die deutschen Bundesländer Lasten untereinander nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilen. Deutschland muss bereit sein, einen Großteil der Flüchtlinge aufzunehmen, einen deutlich überproportional großen Teil. Die Bereitschaft anderer EU-Mitgliedstaaten ihrerseits einen kleineren Beitrag zur Flüchtlingsaufnahme zu leisten wird zudem davon abhängen, dass dabei flexibel vorgegangen wird. Die Slowakei will nur Christen nehmen? Geben wir ihnen christliche Flüchtlinge; davon gibt es auch viel zu viele. Die Tschechische Republik will sich keine Zahl zudiktieren lassen? Sollen sie doch diese Zahl freiwillig anbieten! Polens Regierung sperrt sich? Welche Angebote auf anderen Feldern der europäischen Politik kann man ihr vernünftigerweise machen, die helfen sie umzustimmen?! Wir müssen die jahrzehntelang entwickelte Kunstform des politischen Kuhhandels nutzen! Großbritannien stellt nur viel zu wenig Aufnahmekapazität zur Verfügung? Dann müssen sie auf finanzieller Ebene, etwa bei der Unterstützung für Libanon und Jordanien, damit den Flüchtlingslagern dort das Geld nicht ausgeht, einen deutlich größeren Beitrag leisten. Italien sperrt sich bei den zugesagten Zahlungen an die Türkei? Dann muss die Bundesrepublik unter dem Tisch Geld dazulegen. Der Verteilungsmechanismus für 160.000 Flüchtlinge, den die Europäische Kommission und Berlin 2015 durchgesetzt hatten, hat nicht funktioniert. Dass ein ähnlicher Schlüssel für die eigentlich viel größere Zahl, um die es geht, funktionieren könnte, ist ausgeschlossen. Also bleibt nur der flexible Weg. Der Weg, bei dem Deutschland im Zweifel bereit ist draufzulegen, weil Deutschland für den Zusammenhalt der Europäischen Union eine unbestreitbare Führungsverantwortung hat und weil Deutschland, ganz prosaisch gesagt, am meisten profitier davon, dass die EU nicht in Lähmung verfällt, implodiert oder explodiert.
Berlin beansprucht heute in Europa ganz selbstverständliche eine Führungsrolle. Doch Führung gibt es nicht kostenlos. Wer führen will, muss sich diese Rolle durch größere Investitionen in den Zusammenhalt des Gemeinwesens, hier der Europäischen Union, verdienen.
Ein Teil einer Lösung muss darin bestehen, die Zahl der Flüchtlinge zu verringern, die über die Türkei in die EU kommen. Darüber wird verhandelt. Bei diesen Verhandlungen mag es einem passen oder nicht, dass auf der anderen Seite ein abstoßender Autokrat steht, der am liebsten Sultan sein würde. Maßstab ist nicht, mit wem wir da verhandeln, sondern dass effektiv Arbeitsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und Schulbildung für Flüchtlinge in der Türkei zugänglich werden. Es ist absurd, wenn in diesem Zusammenhang die Milliarden knauserig gezählt werden oder wenn beklagt wird, dass Erdoğan das Geld bekäme. Er muss nun einmal Teil der Lösung sein. Anders geht es nicht. Und das heißt nicht, dass wir ihm wegen seiner Kurdenpolitik oder der Unterdrückung der Presse Kritik ersparen. Unrealistisch und unmenschlich wäre es allerdings, würde die EU zum Ziel erklären, dass der Zustrom aus der Türkei ganz gestoppt werden solle. Wer das wollte, müsste in letzter Konsequenz dazu bereit sein auf Flüchtlinge schießen zu lassen, von europäischen oder türkischen Soldaten.