“Wir sind Grün, nicht Bindestrich-Grün”

Reinhards Rede beim Parteitag in Erfurt

Liebe Freundinnen und Freunde,

Von diesem bündnisgrünen Parteitag in Erfurt soll ein Signal des Aufbruchs ausgehen!

Wir Grüne zeigen: Wir stellen uns den Themen, die unsere Gesellschaft bewegen.

Wir beraten die Energie- und Klimakrise und vor allem wie wir dazu beitragen können ihrer Herr zu werden. Wir debattieren über die Finanz- und Wirtschaftskrise und wie wir darauf antworten müssen. Wir ziehen friedens- und sicherheitspolitisch Bilanz und entwerfen unsere Grundlinien künftiger Politik in diesem Bereich. Wir formulieren unsere Ziele und Schritte in dem neu belebten Kampf für Bürgerrechte und Menschenrechte. Wir diskutieren Rentenpolitik und wie zu verhindern ist, dass Altersarmut wieder massiv zunimmt.

Wir zeigen: Wir haben für die Neuorientierung der Politik in Deutschland auch die richtigen Personen.

Indem ihr die Führung unserer Partei neu wählt, bestimmt ihr, wer die sein sollen, die in besonderer Weise dafür Sorge tragen, dass unsere Botschaften auch ankommen.

Wir zeigen ausserdem Entschlossenheit genau so wie Geschlossenheit. Wir Grüne wollen gemeinsam gestalten, prägen, Einfluß nehmen. Wir definieren uns nicht nach dem Maß anderer. Wir lassen uns nicht in Zuordnungen zwingen, die andere sich für uns ausdenken. Wir haben ein klar bestimmtes Projekt und das ist Grün. Wir sind Grün, nicht Bindestrich-Grün. Und auf der Basis werden wir gegebenenfalls zu entscheiden haben, mit wem wir wieviel davon verwirklichen können.

Liebe Freundinnen und Freunde!

Es geht bei Bundesdelegiertenversammlungen immer um programmatische Orientierung für uns selbst. Aber darüber hinaus geht es auch um unser Angebot an die Menschen, die auf der Suche sind nach neuen Antworten, nach Sicherheit und nach Alternativen zum status quo gleichzeitig, nach Visionen ebenso wie nach der Bereitschaft, ganz pragmatisch zu handeln. Diejenigen, die auf Grün hoffen, sind viel mehr als uns jemals gewählt haben. Lasst uns auf sie zugehen, uns für sie öffnen. Lasst uns für Grüne Ziele werben, indem wir denen auch zuhören, die wir gewinnen wollen.

Liebe Grüne!

Es gibt viele Zeichen dafür, dass ein Grüner Aufbruch möglich ist. Die Tatsache, dass gegenwärtig mehr als je zuvor über grüne Themen gesprochen wird, spricht dafür, und die Tatsache, dass seit einiger Zeit unsere Konkurrenz sich einige Mühe gibt, auch etwas grün zu scheinen. Die Tatsache, dass wir so tolle Wahlerfolge wie in Bayern erzielen können, spricht dafür! Die Tatsache, dass unsere Mitgliederzahlen steigen, spricht dafür. Und die Tatsache, dass am Wochenende in Gorleben eine Renaissance der Anti-Atom-Bewegung zu erleben war, spricht dafür. Die Tatsache, dass diese Bewegung sich just in dem Moment mobilisiert, in dem die Atom-Lobby richtig frech wird und es drauf ankommt. Die Tatsache, dass wir Grüne zu der erfolgreichen Mobilisierung massiv beigetragen haben und vor allem die Tatsache, dass so viel Junge sich dabei engagiert haben, dass sich da eine neue politische Generation entschieden grün bewegt!

Liebe Grüne Freundinnen und Freunde,

der Grüne Aufbruch, der möglich und der so nötig ist, ist bei weitem kein Automatismus, keine Selbstverständlichkeit. Wenn wir ihn zustande bringen wollen, müssen wir uns alle im vor uns liegenden Jahr auf allen Ebenen enorm anstrengen. Wir haben 2009 insbesondere 8 Kommunalwahlen, 5 Landtagswahlen, 1 Europawahl und 1 Bundestagswahl vor uns. Wie können wir es schaffen, dass wir uns dabei nicht erschöpfen, nicht zerfleddern, nicht selbst die Orientierung verlieren?

Ich denke, klar ist dies: Wir müssen das herausarbeiten, was uns Grüne auszeichnet. Wir müssen das verständlich machen, was unsere Visionen und unsere Alltagstauglichkeit zusammen bindet. Wir müssen das in den Vordergrund stellen, was wir an Antworten auf die drängenden Fragen unserer Gesellschaft als Grüne anzubieten haben. Wir müssen die klärende Auseinandersetzung mit den anderen Parteien suchen. Wir müssen ein Bild entwerfen, wohin es gehen soll, und zeigen, dass der Weg dahin auch gangbar ist.

Mir scheint, dass wir all das am besten mit dem Vorschlag eines Grünen New Deal leisten können. Ein Grüner New Deal ist mehr als eine Reihe von Politiken oder Maßnahmen. Ein Grüner New Deal meint ein neues gesellschaftliches Bündnis. Ein gesellschaftliches Bündnis, das sich darauf gründet, ökologische Verantwortung und ökologische Innovation zusammen mit sozialer Teilhabe, mit guter Bildung und Arbeit für alle und mit sozialer Gerechtigkeit zur Grundlage unseres Gesellschaftsentwurfes zu machen. Für ein solches Bündnis müssen wir Grüne in verschiedene Richtungen ausgreifen: die kritische junge Generation ansprechen, aber auch die Handwerker, die merken, dass ihr Handwerk einen grünen Boden hat; innovative UnternehmerInnen ansprechen und fortschrittliche Leute aus Gewerkschaften; die kulturelle Intelligenz stärker als bisher ansprechen wie die technische; im akademischen Raum mehr werben wie bei den Umwelt- und Sozialverbänden.

Ein solches gesellschaftliches Bündnis kann nur geschaffen werden, wenn viele, die heute wenig zu sagen haben oder ganz ausgegrenzt sind, einbezogen werden. Deshalb ist auch die aktive, auf Partizipation setzende demokratische Dimension und die Sicherung der Bürgerrechte notwendig für einen Grünen New Deal.

Liebe Grüne,

von wem stammen wohl die folgenden zwei Sätze: “Finanzkrise und Klimawandel stellen uns vor enorme Herausforderung. Aber es gibt eine Lösung für beides: die Grüne Wirtschaft.”? Es sind, manche haben es vielleicht gemerkt, die ersten beiden Sätze eines Artikels, den der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der Präsident Indonesiens und die Ministerpräsidenten von Dänemark und Polen vor kurzem zusammen veröffentlicht haben. Ist das nicht bemerkenswert? Wie lange ist es her, dass man uns einreden wollte, man müsse sich grundsätzlich zwischen Ökologie und Ökonomie entscheiden? Andrew Stern schrieb 2006 in seinem berühmten Review immerhin schon: You can get green and grow. Heute dagegen kann man mit Fug und Recht sagen: Ohne die ökologische Verantwortung und die ökologische Innovation als Basis zu nehmen, gibt es keine wirtschaftliche Zukunft. Und damit meine ich nicht nur, dass wir an Naturgrenzen stoßen. Ich meine auch, dass wir an soziale Grenzen stoßen, an die Grenzen dessen, was eine Gesellschaft aushält.

Die Finanzkrise und die Klimakrise haben offenkundig eine gemeinsame Grundlage im Versagen von Markt und Staat. Der irre und trotzdem weit verbreitete Glaube an die sogenannte Selbstregulierung der Märkte hat diese des Rahmens beraubt, den sie brauchen, um sich erfolgreich zu entwickeln. Er hat uns alle hilflos gemacht gegenüber einer Marktwirtschaft ausser Rand und Band. Er hat verhindert, dass rechtzeitig umgesteuert wurde. Die Krisen, die wir jetzt erleben, sind ein sehr hoher Preis für diese Verirrung.

Wir Grüne haben früher als andere versucht, Gegenkonzepte gegen diesen neoliberalen Weg zu entwerfen. Mit unserem Konzept einer Grünen Marktwirtschaft haben wir die notwendige Balance zwischen Regulierung durch den Staat, zwischen Rahmenbedingungen, Standards und Zielen die dem Markt demokratische vorgegeben werden, und dem Wettbewerbsgeschehen thematisiert. Wir haben damit den Ursprungsimpuls der sozialen Marktwirtschaft aufgegriffen und ihn ökologisch erweitert und zeitgemäß buchstabiert. Mit dem Grünen New Deal können wir noch einen Schritt weiter gehen. Der Grüne New Deal ist auch kein rein nationales Projekt. Ihn zu verwirklichen dazu braucht es internationale Kooperation. Das betrifft in erster Linie natürlich die EU. Es betrifft aber etwa auch die G20-Staaten, die sich an diesem Wochenende in Washington treffen.

Ein Green New Deal ist gegenwärtig in den USA in vieler Munde. Ich sehe deswegen auch eine Chance für eine Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft in der gemeinsamen Orientierung auf eine solche fundamentale Erneuerung unserer Gesellschaften. Ein Grüner New Deal muss mit der atomar-fossilen Ausrichtung unserer Wirtschaft brechen. Er muss die systemische Krise der internationalen Finanzarchitektur durch eine globale Regulierung überwinden. Er muss aber auch die humanitären Verpflichtungen und die systemischen Risiken ernst nehmen, die beim Kampf gegen den weltweiten Hunger so offenkundig sind.

Die europäischen Grünen wollen im kommenden Jahr mit der Parole eines Grünen New Deal in den gemeinsamen Wahlkampf gehen. Ich möchte hier dafür werben, dass wir auch im nationalen Rahmen diese Orientierung ins Zentrum rücken.

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wir Grüne gegenwärtig vor großen Herausforderungen. Könnten wir nicht wirksamer sein als wir sind? Einerseits denke ich durchaus, wir müssen uns nicht thematisch neu erfinden – unsere Themen haben mehr Resonanz denn je. Wir müssen nicht unsere Werte neu bestimmen – unser Grundsatzprogramm trägt. Und doch redete ich eingangs von einem neuen Aufbruch und viele Kommentatoren fordern das auch von uns, mal in freundlichem Ton, mal barscher. Viele von uns sind ungeduldig. Viele wollen neue Wege einschlagen oder frühere Wege nochmal ausprobieren.

Ich bin der Meinung, dass die Forderung nach einem neuen Aufbruch und die Chance eines neuen Aufbruchs darin begründet sind, dass sich unsere Aufgaben als Grüne in einem Umbruch befinden. Ich meine damit nicht einfach den Wechsel von Regierung und Opposition. Es geht um eine weiter reichende Verschiebung. Ich will das kurz skizzieren.

Die erste große Phase grüner Politik war für uns davon geprägt, dass wir die grünen Themen überhaupt erst einmal auf die gesellschaftliche Agenda bringen mussten. Wir mussten dafür kämpfen, relevant zu sein. Wir mussten durchsetzen, dass man uns wenigstens einräumte, richtige Fragen zu stellen. Dazu mussten wir laut sein und manchmal schrill, konfrontativ und fordernd. Der Kampf dauerte in Westdeutschland die ganzen achtziger Jahre. Ein großer Durchbruch kam mit Tschernobyl, als zum ersten Mal in irgend einer Frage eine Mehrheit uns bestätigte, die richtigen Fragen gestellt zu haben. Als wir soweit waren, hiess es, die Grünen seien nun überflüssig, weil die Berechtigung ihrer Fragen durchaus anerkannt werde. Aber die Antworten hätten sie dazu eben nicht. Also danke vielmals und tschüss.

In der zweiten großen Phase ging es für uns darum unter Beweis zu stellen, dass wir gute, praktisch realisierbare und funktionierende Antworten in vielen Bereichen anzubieten hatten. Wir mussten uns ändern, um weiter erfolgreich zu sein, denn die Aufgabe hatte sich geändert. Dazu mussten wir Exekutivverantwortung haben und also koalierten wir auf allen Ebenen. Dafür fanden wir zum Teil in gesellschaftlichen Bereichen Partner, wo wir vorher ausschließlich Gegner getroffen hatten. Dass man zum Beispiel mit grünen Ideen auch schwarze Zahlen schreiben konnte, sprach sich herum. Wir waren nicht mehr unbedingt gleich laut und radikal wie früher, setzten dafür sehr stark auf Kompetenz. Dass wir nicht nur auf Bundesebene erfolgreich und wirksam regierten, sondern auch diese Regierungszeit in besserer Verfassung beendeten als unser Koalitionspartner, zeigte, dass wir der Aufgabe gewachsen waren. Ein Teil der öffentlichen Meinung reagierte darauf ähnlich wie vordem: ok, das war nicht schlecht mit den Grünen, aber jetzt sind sie passe, denn was sie uns beigebracht haben, das haben inzwischen andere auch begriffen. Danke und tschüss.

Jetzt sind wir in der dritten Phase. Wir werden uns weiter entwickeln müssen, um weiter erfolgreich zu bleiben. Dass wir das können, davon bin ich überzeugt. Die neue Aufgabe ist allerdings eine noch einmal größere. Sie lautet: um den Kern der Grünen Themen und Werte herum ein gesellschaftliches Bündnis zu bilden, das einen für die Mehrheit dieser Gesellschaft gangbaren zukunftsfähigen Weg der Erneuerung beschreitet. Ob der Titel unseres Grundsatzprogramms “Die Zukunft ist grün” Wirklichkeit wird, ist nicht mehr nur eine Frage an uns Grüne allein, sondern sie richtet sich an die ganze Gesellschaft. Keiner kann mehr der Frage entgehen, wie grün er es möchte. Wir bekommen Konkurrenz auf Feldern, die man uns bisher überlassen hatte, und wir liefern anderen Konkurrenz auf Feldern, die wir ihnen bisher weitgehend überlassen hatten. Wir müssen uns deswegen erneuern. Dazu brauchen wir den Mut zu ehrgeizigeren gesellschaftlichen Bündnissen als wir sie bisher schon hatten. Grün ist nicht nur relevant, Grün hat nicht nur einzelne Antworten beizutragen – ohne Grün geht es nicht. Ohne Grün gibt es zum Beispiel keine zukunftsfähige Wirtschaft. Deswegen ist unser Projekt für die Zukunft eben nicht mehr bindestrich-grün, sondern einfach grün. Für diese neue Phase brauchen wir nicht die Rückkehr zu unserer Vergangenheit, aber die Aufnahme des Besten aus den beiden früheren Phasen: Vision und ernsthaften Pragmatismus, Radikalität und Realismus, Konfrontation und Kompromiss und Kompetenz.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich wünsche uns gemeinsam, dass wir diese gegenwärtige Herausforderung eben so meistern wie die vorherigen. Wir sind, glaube ich, auf einem guten Weg.

Ich bedanke mich für Eure Aufmerksamkeit.


Bildnachweis: Bündnis 90/Die Grünen