#196 Europäische Außenpolitik – ein Trauerspiel | BÜTIS WOCHE

Über die U.S.-amerikanische Außenpolitik hat Winston Churchill angeblich einmal gesagt: „U.S. foreign policy in the end always gets it right after first having exhausted all other options.“ Zu Deutsch also etwa: Irgendwie finden die U.S.A. mit ihrer Außenpolitik immer doch noch einen Ausweg, nachdem sie erst alle Sackgassen und Fettnäpfchen ausführlich besichtigt und genug Fehler gemacht haben. Oh, könnte man so sarkastisch-optimistisch nur von der EU-Außenpolitik reden! Zur EU-Außenpolitik fallen mir eher ganz und gar nicht hoffnungsvolle Zynismen ein: Die EU-Außenpolitik ist jederzeit in der Lage, eine glänzende Strategie zu entwerfen und dabei sicherzustellen, dass niemand diese auch nur ein kleines bisschen ernst nimmt. Oder: Die EU-Außenpolitik hat das perfekte Perpetuum mobile erfunden, indem sie aus jeder Niederlage Energie gewinnt für künftiges Scheitern. Oder: Je lauter in der EU nach einer Außenpolitik aus einem Guss gerufen wird, die mit einer Stimme sprechen soll, desto sicherer kann man sein, dass dergleichen nicht passieren wird. Denn die vielstimmigen Rufer nach Gemeinsamkeit werden sich doch nicht dadurch selbst überflüssig machen, dass sie Gemeinsamkeit tatsächlich zulassen! Nein, das will ich gleich klarstellen, ich bin nicht frustriert; eher ist es eine Mischung aus Zorn und Selbsterhaltungsironie, die meine Stimmung prägt. Zu verdauen gab es schließlich zuletzt wieder allerhand, das eigentlich ganz unbekömmlich ist.

Am meisten in Erinnerung ist wahrscheinlich noch die Blamage, die sich der EU-Außenpolitikbeauftragte und EU-Kommissionsvizepräsident Josep Borrell bei seinem Moskau-Besuch abholte. Borrell war, entgegen vielfältigem Rat, schlecht vorbereitet und aus einer Position der Schwäche in die russische Hauptstadt gereist, um sich dort wie einen Schulbuben abkanzeln zu lassen. Und weil wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen braucht, erklärte im Nachgang die russische Regierung von oben herab, sie habe keine politischen Beziehungen mehr zur Europäischen Union. Das signalisierte brutal: Die EU ist so schwach, dass wir es uns zum Sport machen werden, auf ihr herumzutrampeln. Fast folgerichtig sanktionierte dann Moskau als Vergeltung für europäische Nawalny-Sanktionen die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Jourová, und den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Sassoli. Die unmittelbaren Reaktionen hierauf aus den europäischen Hauptstädten muss man fast durchweg mit der Lupe suchen. Ausschließlich Frau Jourová zeigte Emotion. Der Rest war Schlafmützigkeit as usual. 

Bei den milden China-Sanktionen, die die EU im März verhängt hatte, zeigte Brüssel zunächst immerhin die Bereitschaft zu symbolischem Handeln und konnte sich, als das Xi Jinping-Regime sehr hart reagierte, auch auf eine solidarische Haltung verständigen. Das gilt insbesondere für das Europäische Parlament, in dem nur die linke Fraktion der GUE/NGL, in der auch die deutsche Linkspartei sitzt, keine Probleme damit hatte, dafür zu plädieren, dass noch so kurzsichtige Wirtschaftsinteressen in jedem einzelnen Fall Vorrang haben müssten. Hier erwies sich die deutsche Bundesregierung und vor allem die Bundeskanzlerin selbst als massives Hindernis für die nötige europäische Gemeinsamkeit. Frau Merkel konnte nicht genug daran tun, zu demonstrieren, wie sehr sie bei Chinas Diktator Abbitte leisten wollte dafür, dass die EU gegen Xis und Merkels Willen die scheußlichen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang überhaupt für wert befunden hatte, Sanktionen gegen einzelne Verantwortliche auszulösen. Nebenbei verlautete aus dem Kanzleramt, den oft beschworenen gemeinsamen Werten komme für die deutsche Außenpolitik keine operative Bedeutung zu.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel leisteten sich eine Klamotte besonderer Art mit Sofagate, einem unrühmlichen Stück, das sicher in die EU-Annalen eingehen wird. Hintergrund des Schlamassels war die zänkische Konkurrenz zwischen zwei Presidents, die sich gegenseitig ihren Rang nicht gönnen. Das hatte sich gleich im ersten Jahr ihrer jeweiligen Amtszeit z. B. bei einem regelrechten Wettreisen zur Afrikanischen Union nach Addis Abeba unter Beweis gestellt, das kurzfristig dort den Eindruck hervorgerufen hatte, die EU könnte sich tatsächlich für eine Intensivierung der Beziehungen zur Afrikanischen Union interessieren. Doch darum ging es nicht, sondern um Präsidentenbingo: Wer hat an der Spitze mehr oder weniger eindrucksvoller Delegationen mehr Hände geschüttelt? In die Türkei mussten die beiden Presidents, weil sie sich gegenseitig nicht trauten, aber alles zutrauten, zu zweit fahren. Charles Michel nutzte die Tatsache, dass er, anders als Frau von der Leyen, an einen Protokollbeamten gedacht hatte, dazu aus, seiner Kollegin nur das Seitensofa statt eines gleichberechtigten mächtigen Sessels zuzudiktieren, ihr bei der Sitzordnung zu Tische Schmach anzutun und sie auch ansonsten nach Kräften zu demütigen. Frau von der Leyen verpasste allerdings die Chance, diesen Fauxpas ihres Konkurrenten in eigene Stärke zu verwandeln, weil sie fortan die verletzten eigenen Gefühle zehnmal wichtiger nahm als die Türkei-Politik, um die es hätte gehen sollen, und sich auch noch die Peinlichkeit leistete, das Ganze Präsident Erdoğan in die Schuhe zu schieben, der gewiss viel verbockt, aber an dieser Stelle nur hämischer Beobachter war.

Dass der Kabinettschef von Präsidentin von der Leyen eine wichtige Einladung in die Ukraine anstelle seiner Chefin unter Bruch des Protokolls mit der unglaubwürdigen Begründung absagte, man werde im August, dem Brüsseler Ferienmonat, so unendlich viel zu tun haben, dass man leider kein Signal der Verbundenheit mit der Ukraine senden könne, ging fast schon unter. Dass von der Leyens Kommission, wer genau es war, blieb undeutlich, in den Wirren des Brexits beim fehlgeleiteten Versuch, gegenüber Boris Johnson Stärke zu zeigen, Öl in die ohnehin wieder züngelnden Flammen des lange Zeit nur noch schwelenden Nordirland-Konfliktes goss, ist weithin wieder vergessen. Dass die EU beim militärischen Konflikt zischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach nur als hilfloser Beobachter am Rand stand und keinen Ansatz fand, konfliktdämpfend zu wirken, geriet wieder in Vergessenheit, nachdem die Präsidenten Putin und Erdoğan den Konflikt zu ihrem eigenen Nutzen ausgeschlachtet und dann zerniert hatten. Als Josep Borrell mehr oder weniger überflüssig dabei saß, als Präsident Macron im Tschad dafür sorgte, dass die dortige Staatsgewalt möglichst reibungslos auf den Sohn des langjährigen Diktators Déby übergehe, so als sei die EU nur der Notar französischer Postkolonialpolitik, war der Rest Europas damit zufrieden, das noch nicht einmal zu ignorieren.

Nicht gleichgültig lassen dürfte ganz Europa, in welcher Weise Kanzlerin Merkel und Präsident Macron bisher dem Werben von Präsident Biden um eine Neubelebung des transatlantischen Verhältnisses die kalte Schulter gezeigt haben. In Frau Merkels Kanzleramt herrscht abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den U.S.A. Präsident Macron berauscht sich an seiner Parole von der strategischen Autonomie Europas, ohne dass dabei letztlich klar wird, wie sehr er jeweils die ganze EU oder nur ein Kerneuropa oder gar nur das ewige Frankreich als Subjekt der Autonomie imaginiert. Tatsache ist leider, dass Merkel und Macron beide schon verdammt viel Zeit vergeudet haben, ohne durch den Erweis eigener Handlungsfähigkeit der stolzen Rede von der Autonomie wenigstens ein bisschen Plausibilität zu verleihen. Sie scheinen beide nicht zu sehen, dass Biden im Schnellzugtempo arbeiten muss, wenn er eine Chance haben will, nicht schon nach zwei Jahren im Amt, nach den Midterm-Wahlen, zur lahmen Ente zu werden, und dass er deswegen nicht ewig auf Europa warten wird. Mit Japan und anderen asiatischen Partnern ist er schon engagiert unterwegs. Die EU hat noch die eine Chance des Gipfels mit Biden Mitte Juni. Bis dahin muss sie in die Gänge kommen. Dass das nicht einfach wird, ist keine Frage. Wir können nicht schlicht zurückkehren zum Status quo ante Trump, ante Obama. Es hat sich zu viel verschoben in der Welt und auch im transatlantischen Verhältnis, als dass wir nur alte Formeln neu aufsagen müssten. U.S. „Leadership“ muss als „Partnership in Leadership“ neu definiert werden. Es muss ausbuchstabiert werden, wie Europa mit den U.S.A. und etlichen anderen Partnern ein gemeinsames Lager der Demokratien gegen den Autoritarismus bilden kann, ohne sich dabei bloß dem hegemonialen Ringen zwischen den U.S.A. und China unterzuordnen. Es wird noch nicht einmal leicht sein, die unterschiedlich intensiv gewobenen bilateralen Beziehungen zwischen einzelnen europäischen Nationen und den U.S.A. auf einen gemeinsamen EU-Nenner zu bringen. Doch wenn die beiden stärksten Länder der EU, Frankreich und Deutschland, dabei eine integrative Führungsverantwortung in der EU verweigern, dann bleibt am Ende nur Frust und Zersplitterung.

Ich glaube, die China-Beziehungen werden für alle Beteiligten zum Lackmustest der eigenen Weltpolitikfähigkeit. Und leider scheint es oft so, als herrsche gegenüber dieser Herausforderung eine ähnliche selbstbetrügerisch-fatalistische Schicksalsergebenheit wie gegenüber dem Klimawandel. Während die einen die Größe und Dramatik des zu Leistenden noch ignorieren oder sogar aktiv bestreiten, sind die anderen schon bei der resignativen Haltung angelangt, man werde ja möglicherweise ohnehin nicht mehr wirksam auf die Entwicklungsrichtung Einfluss nehmen können. Es ist nicht Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Es ist Siechtum aus Angst, dass eine Kur nicht anschlagen könnte. Gestern noch waren viele zu arrogant, zu behäbig und zu selbstverliebt, um zur Kenntnis zu nehmen, dass angesichts großer Umbrüche nur bewusst gestaltete Veränderung Halt schaffen kann. Heute werden die gestrigen Versäumnisse einfach zu Begründungen für andauerndes Phlegma. Ja, Josep Borrell hat zu Recht gesagt, die EU müsse die Sprache der Macht lernen. Kaum jemand hat diesen wahren Satz noch nicht zitiert. Aber selbst dort, wo die EU Instrumente hätte für einen Neuansatz, wie z. B. bei der Konnektivitätsstrategie, findet sich, wie es scheint, einfach niemand, der sich entschließen will, die Werkzeuge im Werkzeugkasten auch zu benutzen. Jetzt kommt Präsident Biden daher mit dem Vorschlag einer internationalen Infrastrukturpolitik als Antwort auf die chinesische Seidenstraßeninitiative und hat nicht viel mehr als eine strategische Idee und ein paar dürre Talking Points, aber die EU kriegt es anscheinend nicht gebacken, das, was bei uns an konzeptioneller Arbeit geleistet worden ist, umzusetzen in einen eigenständigen Beitrag zur Umgestaltung der internationalen Governance. „Oh, dass Ihr heiß oder kalt wäret! Da Ihr aber lau seid, will ich Euch ausspeien aus meinem Munde.“

Ich glaube nicht, dass das, was wir in der Außenpolitik der EU derzeit sehen, alles ist, was sie kann. Ich glaube nicht, dass unsere Kraft so ausgelaugt ist. Mir scheint, dass es gut wäre, wenn die Parlamente in der Außenpolitik eine größere Rolle spielen könnten, denn die scheinen öfter mal sensibler auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren als die eingefahrenen Exekutiven. Mir scheint auch, dass Deutschland eine wichtige Rolle zu spielen hat bei einer Erneuerung, die jetzt schon sehr lange auf sich warten lässt. Ich hoffe darauf, dass „das Rettende“ doch auch wächst. Die Erwartungen, die derzeit auf uns Grüne projiziert werden, sagen mir, dass sich viele mit dem belämmernden Status quo nicht abfinden wollen.

Sonst noch

– Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Plenartagung der vergangenen Woche. Ich habe zu drei Themen gesprochen: Chinas Sanktionen gegen Mitglieder des Europäischen ParlamentsRusslands aggressiver PolitikBlasphemiegesetzen in Pakistan. Zu Chinas Sanktionen habe ich außerdem im ZDF heute journal ein Interview gegeben

– Die Aufzeichnung der Online-Diskussion „EU-US trade relations: How realistic are the high expectations?“ findet Ihr hier.

– Meine Pressemitteilung zur deutsch-chinesischen Zusammenarbeit beim Klimaschutz könnt Ihr hier nachlesen.

– Hier die Aufzeichnung der Online-Veranstaltung „How to Support Taiwan’s Democracy? Voices from Washington, Paris, Brussels and Berlin“.

– Am 5.5. spreche ich bei der digitalen Podiumsdiskussion „Die EU und die Volksrepublik China – Nebeneinander, gegeneinander, miteinander?“ der Universität Tübingen.

– Ebenfalls am 5.5. findet die Online-Veranstaltung „Konferenz zur Zukunft der EU: Grüne Forderungen und Erwartungen“ statt. Gemeinsam mit weiteren Grünen im Europaparlament sowie im Bundestag und auf Landesebene möchte ich mit Euch konkrete Ideen und Wünsche diskutieren. Hier ist die Möglichkeit zur Anmeldung.

– Für den 6.5. habe ich gemeinsam mit der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden, Europa, Globale Entwicklung, Migration und Flucht der Grünen Thüringen eine Online-Diskussion zum Thema „Wo steht Europa im Hegemonialstreit zwischen den U.S.A. und China?“ organisiert. Eine Anmeldung ist erforderlich: isabell.welle@gruene-jena.de.

– Am 7.5. spreche ich im Rahmen des „EU-US Future Forum 2021“ des „Atlantic Council“ und der  „Delegation of the European Union to the United States“ beim Panel „In Depth | Delivering the Summit for Democracy“. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung sind hier zu finden.