Die Bundestagswahl, könnte man ironisch sagen, hat begonnen, bevor der Wahlkampf richtig in Schwung kommt. Briefwählen kann man nämlich schon, aber zum entscheidenden Schlussspurt für den 24. September setzen die wahlkämpfenden Parteien gerade erst an.
Aus den Umfragen ergibt sich ein Bild, das sich deutlich von dem unterscheidet, das vor vier Jahren den Eintritt in die heiße Wahlkampfphase prägte. Damals gab es – sehr zum Grünen Nachteil, wie sich später zeigte – einen klassischen Rechts-Links-Lagerwahlkampf. Als dabei deutlich wurde, dass die SPD ihren Anspruch nicht realisieren konnte, eine Alternative zu Merkel aufzubauen, waren wir Grüne, die wir uns auf die Rolle des SPD-Juniorpartners festgelegt hatten, faktisch ohne Machtoption. Das trug, zusätzlich zu den bekannten Fehlern, die wir machten, dazu bei, dass wir froh sein mussten 8,4 % ins Ziel zu retten; wäre die Wahl später gekommen, hätten wir noch mehr verloren.
Diesmal gibt es keinen Lagerwahlkampf. Nachdem die SPD eine Zeit lang den Eindruck zu erwecken verstand, sie könnte mit Martin Schulz eine starke Alternative zur Kanzlerin aufbauen, schreckte sie dann doch davor zurück, mehr als eine bloße politische Status-Quo-Variante anzubieten. Im zwischenzeitlichen Schulz-Hype hatte sich, so lang er dauerte, mehr ausgedrückt als nur die Selbsthypnose der SPD. Weit verbreitete Merkel-Verdrossenheit und das vage Gefühl, nach immerhin 12 Jahren könnte vielleicht ein neuer Besen besser kehren, hatten Schulz Auftrieb gegeben. Aber dann enttäuschten er und seine Partei solche Hoffnungen. Erst versuchte er den für die SPD elenden Kampf um die ‘Agenda 2010’ nun im Jahr 2017 rückwirkend zu gewinnen. Er merkte erst viel zu spät, dass er damit dem Streit um die Vergangenheit Vorrang gab gegenüber der Gestaltung der Zukunft. Dann interpretierte er seine Kernparole ‘Gerechtigkeit’ so eng, dass der Horizont jedes ernsthaften Gewerkschaftsvertreters in irgendeinem der Aufsichtsräte der Republik unterschritten wurde. Denn diese Gewerkschaften können sich nicht leisten nur auf Verteilungsgerechtigkeit zu achten. Ihre Stärke liegt darin, dass sie sich auch auf notwendigen Streit einlassen um die Zukunft der Wertschöpfung in ihrem Unternehmen, in ihrer Branche, in der ganzen Volkswirtschaft. Schulz aber versäumte, die vielen schwierigen Fragen nach den Bedingungen erfolgreichen Wirtschaftens in der Zukunft ins Zentrum zu rücken. Charakteristischerweise war bei ihm, selbst in seinen wenigen Sternstunden, Ökologie, ohne welche künftiger wirtschaftlicher Erfolg nicht gestaltet werden kann, bestenfalls eine Randglosse.
Auch bei der Europapolitik, die in diesem Bundestagswahlkampf eine größere Rolle spielt als jemals zuvor und in der es tatsächlich um die Grundfragen der Orientierung unserer Gesellschaft geht, kann die SPD keine Alternative von Relevanz anbieten. Sprunghaftigkeit, Benölen von Regierungsentscheidungen, die man selbst mitgetragen hat, Phantasielosigkeit und Unzuverlässigkeit wecken eben kein Vertrauen. Die angesprochene Unzuverlässigkeit hat in der Person des Putin-Söldners Schröder sichtbar Gestalt angenommen. Die SPD ist für Schröders Schamlosigkeit nicht verantwortlich, aber schon für ihren unzulänglichen Umgang damit.
Im Ergebnis haben wir in diesem Bundestagswahlkampf zwei Status-Quo-Spieler: CDU/CSU und SPD. Die CDU/CSU ist selbstverliebter, anmaßender und gegenüber jedem gesellschaftlichen Fortschritt zunächst einmal auf Abwehr eingestellt. Starke Kräfte in der Union suchen zudem nach Wegen, die wahlpolitisch erfolgreiche Zentrierung und teilweise Sozialdemokratisierung – und ein bisschen sogar Angrünung – der Union unter der Ägide Merkels hinter sich zu lassen. Die SPD ist mehr von Selbstzweifeln zerfressen, in ihre Zerrissenheit verliebt und jederzeit selbst dort eher geneigt oppositionell zu kommentieren, als selber zu führen, wo sich eigentlich ein politisches Vakuum anbietet.
Wenn die großen Parteien gemeinsam zerstritten das Status-Quo-Lager vertreten, muss sich Hoffnung auf Veränderung und Erneuerung an die vier kleineren Parteien richten, die eine Chance haben in den Bundestag gewählt zu werden: Linke, Grüne, FDP, AfD. Deren Angebote gehen allerdings in ganz unterschiedliche Richtungen. Die politische Spannung in diesem Bundestagswahlkampf konzentriert sich deshalb auf die Frage, welches von den sehr unterschiedlichen Politikangeboten dieser vier Parteien in der Schlussphase des Wahlkampfes den dritten Platz erkämpfen kann. Diesmal kommt es auf die Kleinen an.
Was die AfD zu bieten hat, will ich hier nicht diskutieren. Für die politische Lage ist wichtig, dass sie gegenwärtig weniger Wind in ihren Segeln hat, als das lange der Fall zu sein schien. Auch die Linke entwickelt keine Dynamik. Solange sie in der Bestimmung ihrer Ziele über Schein- und Formelkompromisse der beiden Parteiflügel nicht hinauskommt, bleibt sie randständig. Bleiben die FDP und wir Grüne als die zwei Akteure, auf die es in besonderer Weise ankommen wird. Viel und geradezu erschöpfend ist darüber spekuliert worden, ob nicht Grüne und FDP am Ende gemeinsam in der nächsten Regierung landen könnten. In der Variante ”Ampel” scheint schon die Arithmetik dem entgegenzustehen. In der Variante ”Jamaika” wäre das aus Grüner Sicht eine furchtbare Prüfung. Wir haben diese Option zwar nicht ausgeschlossen, wie wir ja überhaupt entschieden haben unsere Grünen Gestaltungsprioritäten ins Zentrum zu rücken, siehe unser 10-Punkte-Programm, statt uns auf Farbspiele zu reduzieren. Aber es braucht schon sehr viel kühne Phantasie sich vorzustellen, wie man für die genannten Grünen Prioritäten erfolgreich sein kann, wenn man gleich vier konservative Koalitionspartner hat, nämlich Kanzleramt, CDU, CSU und FDP. Doch nun macht meines Erachtens die Entwicklung des Wahlkampfes Jamaika zunehmend unplausibel. Wichtige Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft sehen schon eine Rückkehr zu schwarz-gelb. Entsprechend spenden die Sponsoren, entsprechend schreiben die einschlägigen Blätter, entsprechend plädieren führende konservative Politiker. Wie die Erfahrung mit der neuen Landesregierung in NRW zeigt, profiliert sich die FDP dabei in vielen entscheidenden Fragen bewusst anti-grün. Aus der Verbindung der Status-Quo-Union mit einer FDP, die Merkel in etlichen Bereichen von rechts kritisiert, ergibt sich das Projekt der Herausbildung eines neuen Zeitgeistes, welcher für die nötigen Herausforderungen der Modernisierung unseres Landes noch weniger Verständnis hätte, als bei der großen Koalition zu finden war. Angesichts der europapolitischen und der außenpolitischen Eskapaden der FDP-Führung müsst man sich bei einer schwarz-gelben Regierung wirklich überlegen, ob man Winfried Kretschmann nicht bitten muss wieder regelmäßig für Angela Merkel zu beten.
Oder wir Grünen werden dritte Partei, kommen deutlich über 8 % und gewinnen die Chance, die Richtung der Entwicklungen unseres Landes entsprechend unserer Prioritäten mitzugestalten. Das ist eine ziemlich wichtige Weichenstellung, die auf ganz Europa ausstrahlen wird. Dafür brauchen wir in den letzten vier Wochen eine massive Mobilisierung. Bis jetzt plätschert auch unser Wahlkampf da und dort noch. Geschenkt. Auf den Schlussspurt kommt es an. Ich sehe dabei vor allem vier Bereiche, die großes Mobilisierungspotential beinhalten.
Die ökologische Transformation ist der erste Bereich. Die konsequente Fortsetzung der Energiewende durch Kohleausstieg und eine neue Verkehrspolitik. Die profilierten Beschlüsse, welche die Grüne Bundesdelegiertenkonferenz dazu getroffen hat, bieten dafür klare Orientierung. Zweitens geht es um Europa. Es geht um eine andere Wirtschaftspolitik in Europa, die den notwendigen Paradigmenwechsel durchführt, weg von der Austerität, hin zu Investitionen in ökologische, digitale und soziale Modernisierung. Es geht um Europa als den Ort, von dem aus der demokratiebedrohenden Übermacht großer, mächtiger Lobbyinteressen begegnet werden kann. Dazu gehört ganz vornean ein gemeinsamer europäischer Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht. Es geht um ein Europa der Solidarität und der Subsidiarität. Unsere Vision von Europa ist die von einem Europa, das die Vielfalt schätzt, die Bürger schützt, Selbstbestimmung fördert und die ökologischeren Lebensweisen entwickelt, die wir unseren Kindern und der ganzen Welt schulden. Europa wird entscheidend sein für den Kampf um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat. Nicht nur müssen Übergriffe einzelner Autokraten abgewehrt werden. Mehr: Nur durch eine starke europäische Mehr-Ebenen-Demokratie können wir verhindern, dass die Tendenzen zur Entwicklung einer internationalen, autoritären Plutokratie unsere Zukunft verdunkeln.Drittens ist auch für uns Grüne der Wert der Gerechtigkeit zentral. Das Ziel der Bürgerversicherung als Alternative etwa zur Zwei-Klassen-Medizin ist dafür besonders wichtig. Und besonders wichtig ist auch, endlich die systematische Benachteiligung und Unterbewertung der Berufe in den Bereichen Kindererziehung, Pflege und Altenpflege anzugehen. Die vierte große Mobilisierungschance liegt bei den Bienen. Und Schmetterlingen. Den Insekten überhaupt. Und den vielen Vogelarten, die im Zurückgehen sind. Respekt für unsere natürliche Umwelt, aktive Politik für Naturschutz und Biodiversität und eine Landwirtschaftspolitik, die nach natürlicher und nicht nach industrieller Logik produziert.
Wir Grüne haben guten Grund, mit Selbstbewusstsein in die letzten vier Wochen Bundestagswahlkampf zu gehen. Widerstände gibt es genug. Gerade sagte im Zug neben mir eine Frau: „Wenn der Seehofer Bundeskanzler wäre, hätten wir nicht so viele Flüchtling da.” Jeden Tag finden sich Angriffe haufenweise gerade auf Grüne Vorschläge und Positionen, weil es auf die ankommt. Aber die politische Entschlossenheit, die wir für einen Wahlerfolg brauchen, ist eine erneuerbare Ressource. Das können wir packen.
Sonst noch
- Vom 24.-26.08 findet in Dünkirchen das Sommer Camp der französischen Grünen statt. Ein Teil dieses Camps wird von der EGP ko-organisiert. Am Samstag treffen sich Grüne aus ganz Europa um über europäische Herausforderungen zu diskutieren.
- Am 29.08 werde ich mit Annalena Baerbock in Stralsund (M-V) unterwegs sein. Hier wollen wir uns anschauen was der Bau von Nord Stream II für die Region und die Menschen vor Ort bedeutet.
- Einen Tag später bin ich in Bonn um Katja Dörner im Wahlkampf zu unterstützen. Hier planen wir auf dem Friedensplatz in Bonn eine sogenannte Speakers Corner.
- Ein kleiner Überblick über meine bisherigen Wahlkampftermine ist hier zu finden.